Weihnachten – Die ganze Geschichte

 

 

 

Liebe Freunde!

 

Mit dem 1. Adventssonntag steigen wir ein in die Vorbereitungszeit auf Weihnachten. Zwar hat jeder der vier Sonntage sein eigenes Gepräge, aber es ist klar, dass alles auf den Geburtstag von Jesus hinsteuert. Die Weihnachtsgeschichte ist unstrittig der Höhepunkt. Allerdings verhält es sich mit diesen Fest wie mit dem Spiel „Stille Post“. Kennt ihr das? Da wird in einer großen Runde von Mund zu Ohr ein Satz weitergeflüstert. Alle geben genau das weiter, was sie verstanden haben. Und am Ende kommt oft ein merkwürdiges Kauderwelsch raus, das keinen Sinn ergibt und das mit dem ursprünglichen Satz nichts mehr zu tun hat. So verhält es sich mit Weihnachten. Da stehen Begriffe wie Weihnachtsmann, Lichter, Festessen, Geschenke, „Süßer die Glocken und die Kassen nie klingen“, Lebkuchen, kitschige Weihnachtsschnulzenschlager und vieles mehr. Aber der eigentliche Sinn von Weihnachten, warum Jesus Mensch geworden ist, warum Gott auf die Erde kommt und sich in eine menschliche Existenz erniedrigt, die unabdingbare und zwingende Notwendigkeit seiner Geburt, der Inhalt und die Botschaft seiner Inkarnation (Menschwerdung) – von dem ist so gut wie keine Rede mehr. Das hat sicher mit einem sehr ausgeprägten Traditionsabbruch zu tun. Aber auch damit, dass wir in der Breite unserer Bevölkerung, wenn überhaupt, nur diese eine Episode der großen und umfangreichen Geschichte Gottes mit uns Menschen kennen. Das ist so, als ob wir aus der „Lindenstraße“ nur eine oder zwei Folgen gesehen hätten. Wir könnten nicht wirklich sagen, wer da welche Rolle spielt, wer gerade mit wem und warum zusammen ist. Das komplexe Beziehungsgeflecht dieser Serie bleibt auch dem cleversten Zuschauer verborgen, wenn er sich nur eine oder zwei Folgen ansieht. Dabei umfasst diese Reihe fast zweitausend Folgen und 34 Jahre Sendezeit.

 

Jede Geschichte aber lebt davon, dass sie von Anfang an erzählt wird. Nur dann versteht man die Zusammenhänge, nur dann erschließt sich der tiefere Sinn einer einzelnen Episode, eines speziellen Kapitels. So verhält es sich auch mit der Weihnachtsgeschichte. Wenn wir nur das eine Kapital („Es begab sich aber zu der Zeit …. aus Lukas 2) mehr oder weniger gut kennen, dann haben wir noch nicht die ganze Geschichte und ihre Bedeutung und die Beziehungsdimensionen erfasst. Dabei ist die Weihnachtsgeschichte ein Teil von einer Langzeit-Story, die 1189 Kapitel in 66 Büchern umfasst.

 

Deswegen machen wir es heute so, wie es in manchen Forstsetzungssendungen immer wieder heißt: „Was bisher geschah – und wie alles begann“.

 

Das mit Gott und uns Menschen hat damit begonnen, dass Gott am Anfang Himmel und Erde geschaffen hat. Die Bibel beschreibt Gott als den Erfinder des Lebens und den Schöpfer des ganzen Universums. Alles war sehr gut. Alles war am richtigen Platz, im richtigen Verhältnis zum Schöpfer und es herrschte Friede auf Erden. Diese seine Schöpfung hat Gott den Menschen anvertraut. Sie ist unser Lebens- und Gestaltungsraum. Wir haben im Einklang mit dem Schöpfer gelebt, mit der Schöpfung und unseren Mitmenschen. Das ist, wenn wir so wollen, die erste Folge der ersten Staffel.

 

Natürlich ist es unmöglich, in einer einzigen Predigt die ganze nun folgende Geschichte nachzuerzählen! In ganz großen Schritten und sehr grobschnitzartig will ich versuchen, den wesentlichen Erzählstrang aufzuzeigen. Aber wir wollen zunächst etwas tun, was man eigentlich bei einer Serie, bei einer Filmreihe oder einem spannenden Buch NICHT tut: wir werfen einen Blick auf die letzte Folge der letzten Staffel. Am Ende gibt es eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Anfang. „Friede auf Erden“ wir herrschen. Es läuft alles darauf hinaus, dass Gott bei seinen Menschen wohnen wird und sie werden sein Volk sein und Gott selbst wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen abwischen und es wird keinen Tod und keine Trauer und kein Weinen und keinen Schmerz mehr geben. Genau wie am Anfang wird Gott unmittelbar harmonische Gemeinschaft mit den Menschen haben. Himmel und Erde werden eins sein.

 

Wenn aber die ganze Historie eingerahmt ist von dem friedevollen Miteinander von Gott und Mensch und Mensch und Mensch und Mensch und Schöpfung, dann stellt sich unweigerlich die Frage, was unterwegs schiefgelaufen ist. Warum ist das heute überhaupt nicht so? Und welche Rolle spielt Weihnachten in diesem universellen Epos?

 

Schon in der dritten Episode der ersten Staffel spielt sich ein unheilvolles Drama ab. Gott hatte den Menschen als seine Gegenüber geschaffen, als eine Art Abbild von Gott. Darum haben wir eine unglaubliche und unantastbare Würde. Gott hatte so viel Respekt vor seinen Stellvertretern im Garten Eden, dass er ihnen eine Wahlmöglichkeit gegeben hat. Das ist ja wesentlich für unser Menschsein, dass wir willentlich und wissentlich Ja und Nein sagen können. Diese Würde des Menschen ist unantastbar. Selbst Gott tastet sie nicht an. Zugleich ist die Würde aber auch eine Bürde. Denn wir tragen damit die Verantwortung für die Konsequenzen unserer Entscheidung. Die Entscheidung der ersten Menschen im Paradies war sicher unzählige Male die, dass sie „Ja“ zu den Anweisungen Gottes gesagt haben und dass sie die Finger von dem einen Baum gelassen haben, von dem sie nicht essen sollten. Aber dann haben sie sich dazu entschieden, nach den eigenen Regeln zu leben. Und wir tun es heute ganz genauso. Wie kleine Kinder wollen wir selbst groß sein und sagen: „Kann selber“. Und wir haben uns aus freien Stücken von Gott distanziert. Deswegen muss Gott sich aber auch von uns distanzieren, denn in der unmittelbaren Nähe des Heiligen Gottes können die Menschen nicht mehr sein. Was folgt ist, dass die Menschen sich immer weiter von Gott entfernen. Schon lange sind wir nicht mehr an dem Ort unserer Bestimmung. Symptomatisch für die Situation von allen heißt es von Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat: „Dann verließ Kain die Nähe Gottes, des Herrn und wohnte im Land Nod («Land des ruhelosen Lebens»), östlich von Eden.“ Ganz genau wie Kain leben die Menschen je länger desto mehr im „Land des ruhelosen Lebens“, jenseits von Eden.

 

Daran schließen sich ganz viele spannende Episoden an, die alle samt und sonders beschreiben, wie Gott sich darum bemüht, die Menschheit wieder in eine vertrauensvolle und hilfreiche Beziehung zu ihm zu holen, wie er um sie ringt, sie umwirbt, einlädt. Ich möchte es mal so formulieren: die ganze lange Geschichte mit dem Volk Israel und allem, was Gott damit verbunden hat, ist ein ständiger Advent Gottes. Advent heißt ja Ankunft. Gott kommt auf die Menschen zu. Er klopft bei ihnen an. Er startet unzählige vertrauensbildende Maßnahmen. Sein erklärtes Ziel ist, dass alle Menschen, alle Völker wieder hineinfinden in die segensreiche und geheilte Beziehung zu Gott. Ich steige ein in die 12. Folge aus der ersten Staffel (1. Mose 12!). Gott guckt sich einen Mann namens Abraham aus. Zu ihm sagt er: „Deine Nachkommen sollen zu einem großen Volk werden; ich werde dir viel Gutes tun; deinen Namen wird jeder kennen und mit Achtung aussprechen. Durch dich werden auch andere Menschen am Segen teilhaben. Alle Völker der Erde sollen durch dich gesegnet werden.“ Das Großprojekt Gottes heißt „Segen und Frieden für alle Völker“. Die Idee Gottes sieht so aus: er will anhand des kleinen Volkes Israel zeigen, wie das ist, wenn Menschen mit Gott in einer segensreichen und geheilten Beziehung stehen. Gott wird als der heilige Gott anerkannt. Seine Liebe und Weisheit, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, seine Vertrauenswürdigkeit und Herrlichkeit: alles das wird anerkannt. Und unser Misstrauen und der Hochmut werden überwunden und wir leben in der liebevollen Vertrautheit mit Gott. Hierfür sollte Israel der Prototyp sein, ein Volk, an dem sich die anderen Völker ein Beispiel nehmen und auch nach Gott fragen, sich ihm zuwenden und nach seinen Lebensangeboten leben. Auf dem Weg zu diesem Ziel erzählt uns die Bibel, was Gott alles anstellt, damit sein Israel erst mal kapiert, wer er ist, was er mit ihnen im Sinn hat. Er führt sie aus der Versklavung in Ägypten und bringt sie in das Land, das er ihnen versprochen hat. Unterwegs sehen sie, dass Gott gegen alle Widerstände der Feinde für seine Leute kämpft, sie durchs Schilfmeer führt, ihnen zum Beispiel im Kampf gegen den Nomadenstamm der Amalekiter beisteht und einen Bund mit ihnen macht. Dabei geht ein heilsames Erschrecken durch die Volksmenge als sie am Sinai merken, was für ein mächtiger, starker und sogar furchterregender Gott er ist. Aber es zeigt sich auch, dass die Israeliten, die Unfassbares mit Gott erlebt haben, dennoch voller Misstrauen und Hochmut sind. Sie sind unzufrieden, sie meckern und motzen, sie bauen sich ihren eignen Gott (das goldene Kalb), sie empören sich gegen Gott und pfeifen auf seinen Anspruch und seinen Zuspruch. Und Gott? Immer wieder geht er ihnen nach, mit Propheten und guten Worten, mit Strafen und Sanktionen. Immer wieder kommt er auf sie zu, kommt ihnen entgegen.

 

Eine dieser Initiativen Gottes will ich noch herausgreifen. An sich war es nicht nötig, dass die Israeliten einen König haben. Wenn sie der Regentschaft Gottes vertrauen, dann ist eigentlich alles klar. Aber um dem Volk entgegenzukommen gibt er ihnen einen König. Der David war so ganz nach dem Herzen Gottes. Er hat nach Gott gefragt, in seinem Sinn regiert. Er wollte für Gott auch in der Hauptstadt Jerusalem einen Tempel bauen, denn David sehnte sich danach, dass Gott mitten unter seinem Volk wohnt. Das mit dem Tempel hat Gott dem David zwar verwehrt. Aber das sichtbare Zeichen der Gegenwart Gottes, die Bundeslade und das Zelt der Begegnung hat David nach Jerusalem gebracht. Und in dem Zusammenhang wird ein „Adventslied“ gesungen. Es ist der Psalm 24. Gott kommt zu uns. Er will bei uns sein. Und wir sollen und wollen mit ihm leben. Aber auch diese Idee hat sich nicht durchsetzen können. Was folgt ist der langsame Zerfall des geistlichen Israel und damit des politischen Israel. Nun könnte man meinen, dass Gott die Serie einstellt. Sein Drehbuch scheint nicht gut genug, die Zustimmung bleibt ihm versagt. Selbst Israel, und erst recht die Menschheit insgesamt hat sich immer weiter von dem Ort der Bestimmung, von der Nähe Gottes entfernt.

 

Wir haben in der ersten Staffel (dem Alten Testament) dennoch ganz viel gelernt, was unheimlich wichtig ist: Gott will mit uns zusammen sein, er will, dass wir wieder am ursprünglichen Ort unserer Bestimmung sind. Wir haben gelernt, dass Gott weder ein blöder Popanz noch ein brutaler und frustrierter Despot ist, sondern dass er herrlich und heilig ist. Und wir haben gelernt, dass noch nicht mal das Volk Israel ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis zu Gott pflegen kann, dass wir Menschen nicht in der Lage sind, eine Liebes- und Gehorsamsbeziehung zu Gott zu leben. Und trotzdem klappt Gott das Buch nicht zu! Wir kennen ja das Ende der Geschichte. Wir wissen, dass am Ende Gott bei den Menschen sein wird, Frieden auf Erden und so weiter. Wie soll das möglich werden?

 

Hier beginnt mit Weihnachten eine neue Staffel in der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Und zwar in der Weise, dass Gott selbst Mensch wird. Gott kommt uns entgegen. Aber nicht mehr nur in Blitz und Donner am Berg Sinai. Er kommt auf uns zu, aber nicht nur mit einem Zelt oder einem Tempel oder der Bundeslade. Sondern leibhaftig, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und er zeigt uns zweierlei: Erstens zeigt er uns, wer und wie Gott ist. „Wer mich sieht, der sieht den himmlischen Vater“, hat Jesus gesagt. Wie Jesus mit den Menschen umgeht, so geht Gott mit uns um. Willst du wissen, wie Gott ist, kannst du das an Jesus erkennen. Und gleichzeitig zeigt uns Jesus, wie das aussieht, als Mensch mit Gott zu leben. Vertrauen und Liebe, Hochachtung und Respekt, Gehorsam und Leidenschaft sind nur ein paar wenige von ganz vielen Eigenschaften, die Jesus als Mensch in der Beziehung zu Gott gelebt hat. Das heißt für uns, dass wir es an Weihnachten mit dem heiligen Gott zu tun haben, der sich selbst hineinerniedrigt in Menschengestalt. Gott wird kleiner, zerbrechlicher Mensch. Das lasst euch mal auf der Zunge zergehen. Damit schlägt Gott ein ganz neues Kapitel auf und er eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten. Denn Jesus ruft uns nicht zu: „Schaut euch an, wie ich als vollkommener Mensch gelebt habe. Macht es genauso, dann werdet ihr schon ans Ziel kommen.“ Er ist nicht unser Vorbild, dem wir nacheifern sollen. Wir würden doch ebenso scheitern, wie das Volk Israel gescheitert ist. Jesus will keine Nachahmer, sondern will Nachfolger. Ihm nachfolgen, das heißt mit ihm leben, ihn ins Leben einbeziehen. Ihm nachfolgen, das heißt auch, auf ihn hören und mit ihm sprechen. Ihm nachfolgen, das heißt ebenfalls, sich mit Leib und Leben Jesus anvertrauen und ihm zutrauen, dass ich in der Abhängigkeit von ihm endlich wieder am Ort meiner Bestimmung bin und dass ich verbunden mit ihm auch im Himmel ankommen werde. Martin Luther hat das in folgenden Gedanken, die ich liebe, so ausgedrückt: „Mir ist’s bisher wegen angeborener Bosheit und Schwachheit unmöglich gewesen, den Forderungen Gottes zu genügen. Wenn ich nicht glauben darf, dass Gott mir um Christi willen das vergebe, so ist’s aus mit mir, und ich muss verzweifeln. Aber das lass ich bleiben. Wie Judas mich an den Baum hängen, das tu ich nicht, – ich hänge mich an den Hals oder Fuß Christi, wie die Sünderin, ob ich auch noch schlechter bin als diese. Ich halte meinen Herrn fest. Dann spricht Jesus zum Vater: ›Dies Anhängsel muss auch durch. Er hat zwar nichts gehalten und alle deine Gebote übertreten; aber er hängt sich an mich. Vater, was will‘s, ich starb auch für ihn. Lass ihn durchschlüpfen.‹ Das soll mein Glaube sein.«

 

Weihnachten ist ein wesentlicher Teil und ein ganz entscheidender Höhepunkt der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Ich hoffe, dass ich uns den großen Zusammenhang der ganzen Geschichte etwas näherbringen konnte und wir darum diese bewundernswerte Episode der Geburt von Gottes Sohn besser verstehen und in unser Leben einbeziehen können.

 

AMEN