Predigt über Matthäus 11,2-6

 

Liebe Freunde,

der dritte Advent ist seit jeher Johannes dem Täufer gewidmet. Es gibt wohl kaum eine andere Person aus dem Neuen Testament, die so anders, so außergewöhnlich, so mutig, so herausragend ist wie dieser Johannes: seine Biografie, die ja schon vor seiner Geburt ihren Anfang nimmt, die Ankündigung an seinen greisen Zacharias und die altgewordene Elisabeth. Dann sein Auftrag, das Kommen des Messias anzukündigen, seine Botschaft, sein Outfit, seine Essgewohnheiten - alles das macht den Täufer zu einer faszinierenden Person. Ein Mann mit Rückgrat, der den Mut hatte, den hochnäsigen Pharisäern und Sadduzäern die Leviten zu lesen. Er hat ihre Heuchelei aufgedeckt. Und er hat nicht davor zurückgeschreckt, dem Landesfürsten Herodes Antipas den Ehebruch mit seiner Schwägerin Herodias öffentlich vorzuwerfen (die außerdem gleichzeitig seine Nichte war). Dieser Mann hat Courage, der ist aufgetreten mit einer Überzeugungskraft, die beeindruckt.

Und nun sitzt er im Kerker in Machärus, einer Festung östlich vom Toten Meer, weit weg von Jerusalem. Er, der all seine Hoffnungen und Erwartungen auf Jesus, den von ihm angekündigten und präsentierten Christus gesetzt hat. Und jetzt das. Deswegen nagen die Fragen an ihm. Habe ich aufs richtige Pferd gesetzt? Oder war das mit Jesus ein Holzweg? Ist er der Messias, der König, der Christus, der Heiland, der Herrscher? „Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“

Warum stellt Johannes diese Frage? Er stellt sie, weil er von den Werken Christi gehört hat. Und was er da hört, das wühlt ihn auf und stürzt ihn in Zweifel.

Ø   Denn er hört, dass Jesus Blinde sehend gemacht hat. Aber er, der Vorbote des Christus, sieht nur noch das finstere Verlies, in das er geworfen wurde. Der Täufer sieht nur noch Dunkelheit.

Ø   Er hört, dass Lahme wieder gehen können. Und er, der Herold des Messias, der vor ihm hergegangen ist, er liegt in Ketten. Johannes kann keinen Schritt mehr in Freiheit machen. Er ist festgebunden und angekettet.

Ø   Johannes hört, dass Aussätzige rein werden durch den Christus. Sie werden geheilt und sind wieder in die Gesellschaft integriert. Aber er selbst ist der Gesellschaft und der Gemeinschaft mit Christus entrissen worden. Er muss sich wie ein Aussätziger fühlen.

Ø   Johannes weiß, dass Jesus Gehörlose, Taube wieder hörfähig macht. Und er? Er hört hauptsächlich als das Gebrüll der Soldaten, er hört nur über dritte, was sich außerhalb der Gefängnismauern abspielt.

Ø   Und schließlich wird ihm zugetragen, dass Jesus sogar Tote auf-erweckt. Aber offensichtlich hat Jesus bisher nicht die Absicht, seinen Vorboten aus der Todeszelle zu befreien.

Das alles hört der Todeskandidat. Die Frage, die er stellt, kann ich nur zu gut verstehen. „Bist du wirklich der Retter, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?“ Johannes der Täufer hat sich die Frage gestellt: Warum hilft er mir nicht, warum erlebe ich nicht eines seiner Wunder am eigenen Leib? Warum ich, warum geht es mir so elend? Kennen wir diese Fragen und Zweifel?

Ø   In der Bibel lesen auch wir davon, dass Jesus Blinde sehend gemacht hat. Und wer von uns, der mit einer bleibenden Krankheit oder gesundheitlichen Einschränkung leben muss, hat nicht gefragt: Warum ich? Warum hat Jesus mich davon nicht auch befreit und geheilt?

Ø   Auch wir wissen, dass Jesus Lahme geheilt hat und sie wieder laufen konnten. Darum fragen wir heute, wo und wie solche Wunder geschehen. Oder müssen wir uns damit abfinden, dass Jesus Kraft heute nicht mehr so mächtig ist?

Ø   Damals hat Jesus Aussätzige rein gemacht, sie waren wieder gesellschaftsfähig geworden. Aber in unserer Gesellschaft heute werden Menschen an den Rand gedrängt und ausgegrenzt. Das passiert sogar auch in der christlichen Gemeinde.

Ø   Jesus hat denen, die nicht mehr hören konnten, wieder Lebens-freude geschenkt, weil er sie hörfähig gemacht hat. Aber heute gibt es Menschen, die nicht hören, nicht zuhören die nicht hinhören wollen. Und andere hören nichts, weil niemand mit ihnen redet.

Ø   Und das unfassbare hat Jesus damals vollbracht: Tote wurden wieder lebendig. Wir aber blicken in die Vergangenheit und stellen betroffen fest, dass manche nach unserem Dafürhalten viel zu früh gestorben sind.

Ja, wir können den Johannes in seiner Gefängniszelle verstehen, weil wir auch Fragen und Zweifel haben. Und ich meine, dass das Fragen und das Warten, das Hoffen und die Zweifel auch zum Advent gehören. Da gibt es doch auch bei uns so manches, das bruchstückhaft und nur halb fertig ist, das unvollendet oder gar zerbrochen ist. Und wir wissen oder ahnen, dass das auch nichts mehr wird, das bleibt unvollendet, das wird nicht wieder heil: Ich werde nicht wieder gesund, der Tod und das Ende des irdischen Lebens ist unausweichlich. Leben im Advent heißt auch Leben mit dem Provisorium und dem Vorläufigen. Aber Leben im Advent heißt dennoch und gerade deswegen, die Verheißungen und die Zusagen Gottes nicht preisgeben, nicht loslassen. Das ist für uns nicht leicht, das war für Johannes auch nicht einfach.

Denn bei dem, was er von den Werken Christi hört, vermisst er das, was er eigentlich von Jesus Christus erwartet hat. Johannes hatte doch angekündigt, dass der das Böse ausmerzen wird. Jeder Baum, so hat er es mit dem bildhaften Vergleich vorausgesagt, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Jesus soll die Spreu vom Weizen trennen und die Spreu unwiederbringlich vernichten! Alle Ungerechtigkeit wird aufhören. Unfriede, Streit, Neid, Habgier werden der Vergangenheit angehören. Durcheinanderbringer und Unruhestifter wird es nicht mehr geben. Alles ist auf Christus ausgerichtet. Er allein bestimmt und regiert. Jesus ist der Herr, der seine Gemeinde liebt. Und die Gemeinde liebt ihn. Johannes der Täufer gebraucht ein weiteres Bild, das die Hoffnungen auf das baldige, sofortige Friedensreich schürt. In dem Bild ist Jesus der Bräutigam und die Gemeinde ist die Braut. Der Täufer hat sich als der Brautführer gesehen, der die Gemeinde dem Bräutigam Jesus zugeführt hat. Jesus ist da, die Gemeinde sammelt sich um ihn, deswegen ist es doch allerhöchste Zeit, dass nun auch die Hochzeit gefeiert wird. Dass also das Reich Gottes in Friede und Freude und voller Dynamik und Herrlichkeit nun auch sichtbar wird.

Jesus ist da - aber es herrscht immer noch Unruhe und Unfriede in der Welt. Jesus ist der Herr der Gemeinde - aber es gibt immer noch und immer wieder Unruhe und Streit. Und die Gemeinde wächst nicht so, wie wir es erwarten und erhoffen. Wir sind nur eine kleine Truppe, wir haben nicht mehr die Energie. Die einen sind schwach, die anderen sind unzufrieden. Die einen können nicht mehr, die anderen wollen noch viel mehr. Aber es bleibt so vieles bruchstückhaft, unfertig, provisorisch. Und wie der Täufer an den Missständen gelitten hat, so leiden wir auch. Das alles und noch mehr gibt es.

Wie ist der Täufer mit dieser Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit umgegangen? Johannes wird seine Fragen und Zweifel mit seinen Freunden erörtert haben. Er hat sie ausgesprochen und wahrscheinlich hat er auch mit seinen Jüngern darüber diskutiert. Und dann hat er sie vor Jesus gebracht. „Bist du wirklich der Retter, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten?“ Und wir bringen auch unsere Fragen vor Jesus: Bist du wirklich Herr aller Herren, auch in meinem Leben, Herr in unserer Gemeinde? Herr, wie siehst Du die Dinge?

Was Jesus dann dem Johannes antwortet, das muss den erst einmal enttäuschen. Er zählt alles das auf, was der Täufer sowieso schon wusste. Aber vielleicht hat Johannes erkannt, dass Jesus noch ein wesentliches zum Schluss anhängt: „und den Armen wird das Evangelium gepredigt!“ Alles das geschieht: es gibt Wunder, es gibt Heilungen, es gibt weltweites Wachstum der Gemeinden. Aber das wesentliche ist: den Armen wir das Evangelium gepredigt! Das Evangelium lautet: Gott kommt zu seinem Ziel! Gott wirkt unter uns und in der Welt. Gott macht keine Fehler. Gott hat Geduld und schenkt Gnadenzeit, damit noch viele die Vergebung annehmen und erleben können. Das Evangelium, die heilende Botschaft lautet: auch ihr, auch ihr hier in Hessisch Lichtenau oder andernorts seid immer wieder auf die Gnade Gottes angewiesen. Wenn wir perfekte Gemeinde ohne Unruhe und Streit sind, dann sind wir im Himmel. Aber bis dahin haben wir sein Erbarmen dringend nötig. Denn wir sind die Armen, die armen Hansels, die sein Erbarmen, sein Evangelium brauchen. Wir sind auf die Wirklichkeit und die Wirkung der Heilsbotschaft angewiesen. Ich wünsche uns, dass die fünffache Wirkung des Evangeliums unter uns wirksam wird:

Ø   Blinde sehen, und das Evangelium öffnet uns die Augen für die göttliche Wirklichkeit. Wir sehen, was Jesus von uns will und lassen uns nicht blenden von unseren Träumen und unseren Traditionen. Und lernen uns zu sehen, wie er uns sieht. Ich wünsche uns diese Wirkung, dass wir offene Augen des Herzens und der Sinne haben und dass wir einander sehen als Geschwister und dass wir Jesus unter uns sehen.

Ø   Lahme gehen, und das Evangelium macht uns Beine, damit wir gehen. Damit wir aufeinander wieder zugehen und als Gemeinde tatsächlich in Bewegung sind, dass wir beweglich sind im Geist und in Verstand.

Ø   Aussätzige werden rein, und das Evangelium reinigt uns vom Aussatz der Rechthaberei und der Besserwisserei. Es reinigt uns vom Beleidigtsein und holt uns raus aus dem Schmollwinkel.

Ø   Taube hören, und das Evangelium öffnet uns Ohren und Herzen, damit wir zusammen auf ihn hören, auf den Herrn der Gemeinde. Weil wir so unterschiedlich sind, deswegen müssen wir zusammen hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Gleichzeitig müssen wir aufeinander hören.

Ø   Tote stehen auf. Und das Evangelium hat die Macht, die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit aufzuwecken. Das Evangelium macht uns lebendig für den Herrn der Gemeinde.

Johannes der Täufer hatte seine Fragen und seine Zweifel. Wie er dürfen auch wir mit unseren Fragen zu Jesus kommen. Und wie der Täufer wollen wir auf Jesu Antwort hören und uns an seinen Worten genügen lassen.

AMEN