Ich bin der Weinstock

 

 

 

Liebe Freunde!

 

Missverständnisse gibt es ja immer mal wieder. Die kann es geben, weil einer die Worte des anderen nicht richtig verstanden hat. Schwerhörigkeit ist eine häufige Ursache für Missverständnisse. Hier könnte ich euch manche Stories aus der AWO erzählen. Sei es beim Zahlenbingo oder der Einladung zu einem Programmpunkt in den Hausgemeinschaften. Nicht richtig hinhören, das muss aber nicht unbedingt was mit den Ohren zu tun haben. Sondern das Kind zum Beispiel hört nicht richtig hin, ist mit den Gedanken wo ganz anders, hört nur das, was es hören will. Als meine Frau Christa acht Jahre alt war, wollte sie eine vielbefahrene Straße überqueren. Die Frau neben ihr hat gesagt, dass frei ist. Christa ist losgegangen. Das Missverständnis lag darin, dass die Frau meinte, dass nach dem Motorrad frei ist. Oder der Kunde liest das Kleingedruckte im Vertrag nicht. Oder der Kollege hört nur den ersten Teil der Information, meint, dass er alles schon verstanden hat, hört den zweiten Teil der Nachricht nicht mehr. Und schon gibt es das dickste Missverständnis mit fatalen Folgen. So geht es uns immer wieder mit biblischen Aussagen. Wir hören nicht richtig hin, wir nehmen nur das auf, was uns in unseren Kram passt, wir überhören oder überlesen wesentliche Hinweise. Und schon gibt es ganz dicke Missverständnisse mit fatalen Folgen.

 

Beim nächsten „Ich-bin-Wort“ von Jesus gibt es eine ganze Reihe von Aussagen, die leider viele Menschen falsch verstehen, falsch deuten. Wir hören zunächst mal auf den Text aus Johannes 15,1-6:

 

1 Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weinbauer. 2 Jede Rebe an mir, die nicht Frucht trägt, schneidet er ab; eine Rebe aber, die Frucht trägt, schneidet er zurück; so reinigt er sie, damit sie noch mehr Frucht hervorbringt. 3 Ihr seid schon rein; ihr seid es aufgrund des Wortes, das ich euch verkündet habe. 4 Bleibt in mir, und ich werde in euch bleiben. Eine Rebe kann nicht aus sich selbst heraus Frucht hervorbringen; sie muss am Weinstock bleiben. Genauso wenig könnt ihr Frucht hervorbringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, und ihr seid die Reben. Wenn jemand in mir bleibt und ich in ihm bleibe, trägt er reiche Frucht; ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wenn jemand nicht in mir bleibt, geht es ihm wie der ´unfruchtbaren` Rebe: Er wird weggeworfen und verdorrt. Die verdorrten Reben werden zusammengelesen und ins Feuer geworfen, wo sie verbrennen.

 

Der erste Irrtum bezieht sich auf die Erwartung, dass wir Frucht bringen müssen. Es liegt ja bei dem Vergleich auf der Hand. Jesus ist der Weinstock und wir sind wie die Reben mit ihm verbunden. Was sollen Reben tun, wozu sind sie da? Sie sollen Weintrauben produzieren. Dem entsprechend ist es also unsere Aufgabe, das zu tun, wozu wir bestimmt sind. In einem anderen Zusammenhang sagt Jesus ja, dass man uns an unseren Früchten, an unseren Taten erkennen soll (Matthäus 7,16-20). Und was ist das? Die Früchte sind nach Auffassung von vielen ein anständiges Leben, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, sei schön ordentlich und fromm, sei fleißig und sei für deine Mitmenschen da. Fürchte Gott, tue Recht und scheue niemand. Und wer erfolgreich ist, der hat offenbar alles richtig gemacht. Der hat sich angestrengt und abgemüht, ist guter Mensch. Also Daumen hoch und Haken dran. Das lasse ich zunächst mal unkommentiert so stehen, ich werde nachher darauf zurückkommen.

 

Das nächste Missverständnis betrifft das Beschneiden von den Reben. Wer mal im Winter durch einen Weinberg geht könnte erschrocken sein über das Bild, das sich einem bietet. Nicht nur die Blätter und die saftigen Weintrauben sind weg, sondern auch ganz viele Reben sind abgeschnitten. Da ist nicht mehr viel übriggeblieben. Das überträgt Jesus ja auch auf uns. Und infolgedessen sind viele der Meinung, dass sie sich auch so kasteien und beschneiden und bescheiden müssen. Was schön macht und was Spaß macht, das ist verboten, davor muss man sich hüten.

 

Wir sind uns ja schon darüber im Klaren, dass manches bei uns nicht in Ordnung ist, und davon sollten wir uns trennen, das sollten wir lassen. Es ist richtig, wenn wir uns von Lügen und Diebstahl fernhalten. Wir sollten auch nicht eifersüchtig und nicht zornig sein. Das ist uns klar. Aber daraus hören wir den Apell, dass wir uns bemühen und am Riemen reißen müssen. Wie heißt es doch bei Goethe: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Wir spüren, dass das ganz schön anstrengend sein kann. Das erfordert ein hohes Maß an Selbstbeherrschung und Disziplin. Aber so manches, was da an unguten Dingen in unserem Leben wuchert, ist uns gar nicht bewusst. Teilweise denken wir, dass „das doch alle machen“, also kann es nicht gar so schlimm sein. Und zum anderen Teil merken wir gar nicht mehr, wie uns unfruchtbare Triebe blockieren und daran hindern, dass Gutes bei uns wächst. Egal, wir müssen uns bemühen, besser zu werden und uns von schlechten Gewohnheiten trennen. Auch das lasse ich zunächst mal so stehen, ich komme gleich darauf zurück.

 

Schließlich ergibt sich aus diesen beiden Überzeugungen noch ein Drittes. „Jede Rebe an mir, die nicht Frucht trägt, schneidet er ab.“ So steht es im Bibeltext. Und so befürchten es manche Menschen. Weil sie nicht genug gute Taten und Erfolge vorweisen können, statt dessen zu viel ungute Triebe produzieren, deswegen haben sie die Angst, dass Gott sie – schnipp, schnapp – abschneidet und für immer ins ewige Höllenfeuer wirft.

 

Am Ende der Betrachtung von diesem wunderbaren Bild vom Weinstock und den Reben und dem Weinbauern stehen statt Freude und Gelassenheit – Angst und Anstrengung oder irgendwann fatale Gleichgültigkeit.

 

Und das ist schade, weil hier so viele Missverständnisse vorliegen. Beim genauen Hinsehen, Hinhören entdecken wir so viel Befreiendes, Beglückendes. Fangen mit dem ersten Glück an, das diese Worte von Jesus offenbaren. Er sagt: „Ich bin der wahre Weinstock“. Er betont das deswegen so ausdrücklich, weil der Vergleich mit dem Weinstock bzw. Weinberg sehr alt ist. Im alten Bund Gottes mit seinem Volk Israel spricht er gern von seinem Volk als seinem Weinberg. In Jeremia 2,21 steht beispielsweise: „Ich hatte dich als edlen Weinstock eingepflanzt, als Rebe aus bester Züchtung. Wie kommt es dann, dass du zu einem wilden Weinstock wurdest, zu so einer schlechten Rebe?“

 

Gott sieht in seinem Volk so was wie einen Weinstock, der das Potenzial hat, gut zu gedeihen und herrliche Früchte hervorzubringen. Aber Gott muss feststellen, dass das Volk Israel, sein Volk, nicht bereit ist, sich von ihm behandeln, korrigieren, beschneiden zu lassen. Sie sind nicht bereit, Gott zu vertrauen. Darum sind sie auch nicht in der Lage, so zu sein, wie Gott es will und das zu tun, was er erwartet. Das ist ein Problem, das ist ein Konflikt. Denn auf der einen Seite haben wir die berechtigte Erwartung Gottes an uns Menschen, dass wir in seinem Sinn Frucht bringen. Und auf der anderen Seite die ernüchternde Feststellung, dass wir dazu nicht in der Lage sind. Deswegen installiert Gott ein Upgrade. Er installiert Jesus als den wahren Weinstock. Er liefert die optimalen Voraussetzungen dafür, dass wir – mit ihm verbunden – unserer Berufung gerecht werden können. „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ So verspricht es Jesus. Und vor dem Hintergrund schauen wir uns an, was mit Frucht gemeint ist und räumen mit dem ersten Missverständnis auf, das ich vorhin entfaltet habe.

 

Furcht: was ist damit gemeint? Die Bibelstelle, die das sehr gut darstellt, ist Galater 5,22-23: Die Frucht, die der Geist Gottes hervorbringt, besteht in Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Rücksichtnahme und Selbstbeherrschung.

 

Habt ihr mitgezählt, wie viele Eigenschaften, wie viele Früchte Paulus hier aufzählt? Die meisten werden es schaffen und auf die Zahl 9 kommen. Aber leider stimmt das nicht. Denn die Grammatik verrät uns, dass es sich nur um eine einzige Frucht handelt. Die eine Frucht ist die Liebe! Und diese Liebe wird aufgefächert und in acht Spielarten entfaltet. Liebe ist ja auch in der Tat das, was wir hervorbringen sollen. „All You need is love“, da haben die Beatles schon recht. Aber wie kann Liebe bei uns wachsen, gedeihen, sich entfalten und im Alltag auswirken? Paulus schreibt hier in Galater 5, dass der Geist Gottes diese Frucht bei uns wachsen lässt. Es ist sein Wirken und Handeln bei uns und in uns. Im Römerbrief lesen wir, dass uns der Heilige Geist geschenkt ist, und durch ihn hat Gott unsere Herzen mit seiner Liebe erfüllt. Liebe kann nur bei uns gedeihen, wenn sie in uns hineingelegt worden ist. Liebe kann nur aus uns herausfließen, wenn sie zuvor in uns hineingegossen worden ist.

 

Die Entfaltung und Auffächerung der Liebe als der Frucht des Geistes finde ich sehr aufschlussreich. Eva von Thiele-Winckler war Ende des 19. Jahrhunderts Diakonisse und eine innovative und mutige Leiterin eines diakonischen Werkes. Sie hat es so formuliert: Freude ist die jubelnde Liebe, Frieden ist die ruhende Liebe, Geduld ist die tragende Liebe, Freundlichkeit ist die leuchtende Liebe, Güte ist die mitteilende Liebe, Treue ist die vertrauende Liebe, Sanftmut (Rücksichtnahme) ist die wehrlose Liebe und Selbstbeherrschung ist die reine Liebe. Das alles sind Äußerungen und Auswirkungen dessen, dass Jesus durch den Heiligen Geist in uns lebt. Und wenn wir das nun mit dem ersten Missverständnis vergleichen, dann merken wir schon deutliche Unterschiede. Bei Frucht geht es nicht um Arbeit, Leistung, Erfolg; auch nicht um mühevolle Anständigkeit. Sondern Frucht ist das, wie ich arbeite, etwas leiste und erfolgreich bin. Frucht ist, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehen, wie ich ihnen begegne. Und Frucht ist auch, wie ich sie auf den Gott hinweise, der meinem Leben Halt, Inhalt und Gestalt gibt.

 

Bei dem zweiten Missverständnis ging es um das Gegenteil von Frucht. Hier war ja die Meinung, dass wir uns selbst beschneiden und bescheiden und kasteien müssen. Aber Jesus sagt, dass das die Aufgabe vom Weinbauer ist. Der schneidet die Reben zurück. Er reinigt sie. Aus der Geschichte des Volkes Israel haben wir aber gelernt, dass sich die Menschen durchaus dagegen wehren, dass Gott an ihnen arbeiten will. Warum ist das so? Das ist so, weil wir steif und fest an Verhaltens- und Denkmustern festhalten, die nicht göttlich, sondern sehr irdisch-menschlich sind. Und weil wir von unserer Natur ziemlich selbstgerecht und misstrauisch sind. Dabei will Gott uns ja nichts Böses, wenn er uns zum Beispiel unseren Egoismus stutzen und zurückschneiden will. Oder wenn er unsere Eifersucht kappen will. Oder wenn er unseren Jähzorn überwinden will. Dann will Gott doch das wegnehmen, was einem gesunden Wachstum von guten Früchten im Weg steht. Das Prinzip kennt ja so ziemlich jeder aus dem Garten und dem Feld, das weiß man aus der Landwirtschaft und der Pflanzenwelt überhaupt. Wenn das Unkraut gejätet wird, dann kann das Gemüse besser wachsen. Wenn das Moos im Garten bekämpft wird, kann der Rasen gedeihen. Genauso ist es auch bei uns! Wenn der Egoismus und die Eifersucht und der Jähzorn gedämpft werden, dann kann die Liebe aufblühen.

 

Aber wir müssen davon wegkommen, dass wir uns mit unserem frommen Eifer aus eigener Kraft optimieren wollen. In demütiger Bescheidenheit können wir Gott die schlechten Triebe hinhalten und ihn bitten, an uns zu arbeiten. Wir sollen und müssen nicht gegen Versuchungen und Anfechtungen allein angehen, sondern beten und bitten: Lieber Gott, hilf mir.

 

Damit will ich auf das dritte Missverständnis noch eingehen. Das bestand in der Angst, dass wir dann von Gott ins Höllenfeuer geworfen werden, wenn wir nicht brav genug sind, sondern zu viele ungute Triebe hervorbringen und zulassen. Aber Gott wird nicht daherkommen und zählen, wie viele gute Früchte und wie viele schlechte Triebe bei uns zu finden sind. Sondern er wird darauf schauen, wie wir zu ihm stehen. Darum geht es, wenn Jesus sagt, dass wir bei ihm und an ihm und in ihm bleiben. Darum sollen wir uns also bemühen, dass wir mit Jesus verbunden sind und bleiben. Es ist wie in einer guten Beziehung, die gelebt und gepflegt, gestaltet und gefüllt wird. Das tun wir ja zu unseren Nächsten und Allernächsten, weil wir uns stets bewusst sind, dass wir zusammengehören. Du bist für mich da und ich bin für dich da. Du in mir, in meinem Herzen, und ich in dir und deinem Herzen. Dabei ist es normal und selbstverständlich, dass zwei in einer Beziehung ihr Leben miteinander teilen. So ist das auch in der Beziehung zu Jesus, zum Weinstock, an dem wir die Reben sind. Natürlich und organisch und ganz selbstverständlich miteinander verbunden, so sollen wir bei, an und in ihm bleiben. Das äußert sich im Reden und Hören. Das gewinnt im Alltag immer mehr Gestalt, wenn wir auf seine Hinweise achten und sie beachten. Und dann sind wir ganz gelassen und gewiss, dass nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann, dass er uns nicht abschneidet und wegwirft. Dann können wir es zulassen, dass er uns reinigt und ungute Triebe zurückschneidet, denn er weiß, was gut für uns ist. Und dann können wir erleben, wie mehr und mehr unser Charakter und unsere Persönlichkeit von ihm durchdrungen sind und wie gute Früchte reifen.

 

AMEN