Ein Tag im Leben von Jesus –

Jesus enttäuscht seine Jünger

Textlesung: Nimm die Bibel zur Hand und lies Markus 6,45-52!

 

Liebe Gemeinde!

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Das ist manchmal ein salopp daher gesagter Spruch. Aber oft ist das eine ziemlich herbe Lebenserfahrung. Es kommt einfach nicht so, wie wir das gewünscht oder gehofft oder geplant haben. So haben wir uns das nicht vorgestellt, da hatten wir ganz andere Erwartungen.

Nein, so hatten sich die Jünger das meines Erachtens nicht vorgestellt. Sie haben ja diesen einen besagten Tag im Leben von Jesus miterlebt. Sie waren dabei. Und ihre Wahrnehmung war doch die: Jesus hatte sie einige Tage zuvor ausgesandt, und sie haben in seiner Vollmacht ganz viele Menschen mit der Botschaft vom Reich Gottes erreicht. An diesem Tag kommen sie zu ihm zurück und berichten Jesus davon. Und tatsächlich sind im Gefolge der Jünger unfassbar viele Menschen gekommen, um Jesus zu hören, zu sehen, zu erleben. Und Jesus nimmt sich die Zeit, er predigt und heilt. Und zu allem Überfluss macht er mit ein paar Broten und etwas eingelegtem Fisch die zigtausend Menschen satt. Ich vermute, dass die Jünger sehr begeistert von ihrem Meister gewesen sind. Ich glaube, dass sie euphorisch waren. Das Volk war fasziniert von ihrem Rabbi, von ihrem Jesus. Denn das Volk wollte Jesus zum König ausrufen. Und sie, die Jünger, seine Schüler, sie würden wahrscheinlich in seiner Regierungsmannschaft eine Rolle spielen.

Ich glaube nicht, dass diese Interpretation an den Haaren herbeigezogen ist. Sondern die Erwartungshaltung an Jesus war auch bei den Jüngern, ebenso wie im Volk, sehr diesseitsbezogen, sehr irdisch, sehr politisch. Die Männer, die uns als die Emmaus-Jünger geläufig sind, haben es meine ich auf den Punkt gebracht: „Und wir hatten doch unsere Hoffnung darauf gesetzt, dass er derjenige ist, der dem Volk Israel die schon lange erwartete Befreiung bringt.“ Diese Hoffnung, diese Erwartung hatten die Jünger am Abend jenes besagten Tages auch. Aber Jesus erfüllt ihre Erwartungen nicht. Sie hätten vielleicht gern mit ihm über die weitere Vorgehensweise diskutiert, hätten mit ihm gern überlegt, wie sie noch mehr Menschen für ihn gewinnen und begeistern können. Aber stattdessen schickt Jesus seine Männer weg. Er zwingt sie regelrecht in das Boot und gibt ihnen den Befehl, am Nordufer des Sees entlang bis nach Betsaida zu fahren. Warum trennt Jesus die Zwölf mit solcher Heftigkeit von der Menschenmenge und treibt sie über den See weg, bevor er allein die Volksversammlung auflöst? Vielleicht stand Jesus tatsächlich vor der Alternative: entweder sind seine Jünger dem Begeisterungssturmlauf des Volkes ausgesetzt oder dem Sturm auf dem See. Und Jesus wählt für seine Männer den Sturm auf dem See.

Ich glaube, dass das seine Strategie gewesen ist. Damit die Jünger innerlich bei ihm bleiben und nicht durch fehlgeleitete Träume von ihm weggetrieben werden, muss er sich hier für die nächsten Stunden von ihnen trennen und sie wegschicken.

Ja, auch bei uns kommt doch vieles ganz anders als wir es uns gedacht und erhofft und gewünscht haben. Auch wir geraten in Nöte und Lebensstürme. Ich bin weit davon entfernt, jede Belastung und jede Krise damit zu begründen, dass Jesus uns von einer Illusion oder einer falschen Vorstellung über ihn bewahren will. Aber vielleicht hat mein verstorbener väterlicher Freund Martin Gresing recht gehabt, als er in seinem Lied schrieb: „Du führtest uns in Nöte, du nahmst uns unsere Kraft, auf keine andre Weise hättst du es sonst geschafft.“ Vor welchen geistlichen Nöten muss Jesus uns unter Umständen dadurch bewahren, dass er uns in konkrete alltägliche Nöte führt?

Vielleicht mutet er uns mal eine Sorge zu, damit wir es wieder durchbuchstabieren, alle Sorgen auf ihn zu werfen. Vielleicht lässt er es zu, dass etwas unseren Händen entgleitet und wir hilflos sind, damit wir wieder neu erkennen, dass wir bei ihn in guten Händen sind. Vielleicht erleiden wir eine Anfechtung oder eine Trauer, um zu entdecken, dass er auch im dunklen Todesschattental bei uns ist. Und vielleicht überfallen uns Glaubenszweifel, um zu erfahren, dass Jesus uns sagt: Ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhört. Vielleicht. Ich weiß das natürlich nicht. Aber vielleicht entdeckst du hin und wieder, wozu der eine oder andere Sturm in dein Leben gekommen ist und wovor er dich bewahren sollte.

Vielleicht tragen manche von uns auch die Haltung und Einstellung und Überzeugung in sich, die in folgenden Zeilen so ausgedrückt werden:

„Mit Jesus alle Tage in Freude wie im Leid, getrost in jeder Lage, für seinen Dienst bereit. Mit ihm in allen Dingen wird jedes Tagwerk gut, und du wirst es vollbringen mit Kraft und frohem Mut.

Mit ihm sind deine Wege wie eine helle Spur, auch deine dunklen Stege sind voll von Gnade nur. Mit ihm ein fröhlich Wandern durch diese Welt und Zeit, von einem Tag zum andern zu neuer Herrlichkeit.

Mit ihm, da ist dein Leben voll Sonne und voll Licht. Er will dir alles geben, was selber dir gebricht. Mit ihm wird alles enden und gehen, wie er will, mit seinen Allmachtshänden bringt er dich an dein Ziel.“

In diesen Zeilen von Johann Zeilinger steckt ganz viel Glaube und Zuversicht und Hoffnung drin. Und das will ich auch nicht klein- oder schlechtreden. Aber für so manchen lieben frommen Christenmenschen bleibt hauptsächlich die Aussage hängen: „Mit ihm, da ist dein Leben voll Sonne und voll Licht.“ Das ist aber eine Illusion, das stimmt so nicht, das hat Jesus auch meines Erachtens nirgends verheißen. Im Gegenteil, wenn ich das mal so behaupten darf. Jesus sagt seinen Jüngern, dass sie in dem Leben mit ihm und in dieser Welt Angst und Bedrängnis erleben und erleiden müssen. Die Apostel Paulus und Barnabas machen in ihrer Verkündigung an die christlichen Gemeinden deutlich, dass wir durch mancherlei Nöte und Unannehmlichkeiten gehen müssen, bis wir die neue Welt Gottes erreichen. Und noch einmal will ich Jesus selbst zitieren. In seinem großen Gebet für seine Jünger bittet er den himmlischen Vater nicht darum, dass wir allem Leid und allen Nöten dieser Welt entnommen werden. „Vater, ich bitte dich nicht, sie aus der Welt wegzunehmen, aber sie vor dem Bösen in Schutz zu nehmen.“ Ich meine, dass Jesus genau das hier für seine Jünger getan hat und dass er das auch für uns immer wieder tun will. Er will uns nicht vor allen Krankheiten und alltäglichen Herausforderungen bewahren; aber vor dem, was uns von ihm trennen könnte will er uns in Schutz nehmen.

Das tut er bei den Jüngern damals allerdings auf – sagen wir mal – merkwürdige Weise. Jesus schickt sie sehenden Auges auf den See, rein in den Sturm. Ich will mich jetzt nicht dazu äußern, ob das Jesus im Detail so gewusst oder gar geplant hat. Deswegen wage ich es auch nicht zu sagen, ob man das von außen betrachtet als fies und gemein bezeichnen darf. Aber machen wir uns doch die Situation der Jünger mal möglichst konkret bewusst und schauen uns die Daten und Fakten an, die uns das Evangelium übermittelt. Markus berichtet, dass das Boot am Abend mitten auf dem See gewesen ist. Diese Zeitangabe ist dehnbar. Das kann kurz nach Sonnenuntergang gewesen sein, dass wird aber spätestens um 9 Uhr abends gewesen sein. Denn um 21 Uhr beginnt nach den damaligen Begrifflichkeiten die Nacht. Wenn das Boot zu der Zeit bereits mitten auf dem See gewesen ist, dann hat sie ein kräftiger Nordwind Richtung Süden abgetrieben. Sie waren also beileibe nicht mehr in Ufernähe, sondern fünf bis sechs Kilometer weit weg. Jesus aber kam erst so um die vierte Nachtwache zu ihnen. Die vierte Nachtwache hat morgens um 3 Uhr begonnen. Das bedeutet, dass die 12 Männer 6 Stunden lang gegen den Nordwind angerudert haben.

Natürlich fragen wir uns, warum Jesus sie so lange hat zappeln lassen. Das kann er doch nicht machen, das kann er doch nicht zulassen! Und wieder sind wir bei der Meinung oder Überzeugung, dass der liebe Herr Jesus das seinen Leuten doch nicht zumuten kann. Dabei haben wir allerdings den falschen Eindruck, dass die Jünger durch den Nordwind auf dem See Genezareth in eine lebensbedrohliche Situation geraten seien. Wir haben wahrscheinlich eine Situation vor unserem inneren Auge, dass das Boot der 12 Männer jeden Moment von einer Monsterwelle erfasst und in die Tiefe gerissen wird. So ist das aber überhaupt nicht. Ja, es stimmt, sie sind beim Rudern nur mühsam vorwärts gekommen. Ja, sie kamen beim Rudern an ihre Grenzen. Aber Jesus hat sie hier nicht sehenden Auges in eine lebensgefährliche Situation geschickt, sondern in die harte Realität des Lebens. Es sind zuweilen wirklich „nur“ die harten Realitäten des Lebens, die Jesus uns zumutet. Die betreffen Kinder Gottes, die betreffen Christenmenschen genauso wie alle anderen Leute. Machen wir uns das doch bitte bewusst! Die Preiserhöhungen für die Energiekosten belasten uns auch. Wenn du zum Zahnarzt gehst, dann hast du entweder eine entsprechende Versicherung oder der Zahnersatz kostet Geld. Auch wenn du mit Jesus unterwegs bist, kannst du Kreuzschmerzen oder einen Bandscheibenvorfall bekommen. Ja, auch Christinnen und Christen erkranken, weil sie sich mit dem Covid 19 Virus infiziert haben. Und auch wenn wir in einer christlich geprägten Familie groß geworden sind und leben, gibt es unter Geschwistern Streit oder Sendepause. Selbst die wirklich lieben und frommen Menschen können Stress und Knatsch mit den Nachbarn bekommen. Ja, bei uns gehen auch mal das Auto, der Kühlschrank, die Waschmaschine und der Computer kaputt. Das ist bei uns so wie bei allen Leuten.

Aber uns gilt das, was damals für die Jünger auch Gültigkeit hatte: Und Jesus sah, dass sie sich abplagten. Jesus konnte das in der Nacht und bei der Entfernung wohl kaum mit bloßem Auge sehen, wir sollten also nicht an ein physisches Sehen denken. Ich würde es gern als ein Sehen des Gebetes bezeichnen. Denn Jesus war die Zeit über auf dem Berg und hat gebetet. Betend hat er seine Männer in dieser Herausforderung begleitet. Betend begleitet er dich in deinen Belastungen und Mühen. Betend tritt er beim Vater für dich ein, wenn du dir verloren oder verraten oder verlassen vorkommst. Jesus hat dich nicht aus den Augen verloren, auch dann nicht, wenn du den Eindruck hast, dass du ruderst und rackerst und keinen Deut vorwärts kommst. Wir haben einen Jesus, der uns sieht, auch wenn es gerade nicht danach aussieht.

Und dann kommt er sichtbar und leibhaftig zu den Jüngern und die Männer glauben nicht, was sie da sehen. Denn die Jünger rechnen nicht mit ihm. Irgendwie ja auch logisch, oder? Naturwissenschaftlich ist das ja auch undenkbar. Wie soll einer übers Wasser gehen können?! Die Jünger haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Jesus. Klar, denn rechnen kann man nur mit Zahlen und Fakten, durchdacht mit dem Verstand, verifiziert durch die Erfahrung und definiert durch Gesetzmäßigkeiten. Aber können wir mit Jesus rechnen? Nein, rechnen im Sinne von berechenbar machen, das können wir nicht. Aber auf ihn zählen können wir.

In der Theorie ist uns das bekannt. Aber wie ist es in der Praxis? Trauen wir es Jesus zu, dass er auf dem Wasser gehen kann? Viele unserer Zeitgenossen halten das für ein Märchen, eine Legende. Selbst in der Theologie regen sich Zweifel und Widerstand gegen solche Wunder. Vor 75 Jahren hat Rudolph Bultmann behauptet: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparate benutzen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Das seien alles unerklärbare Mythen, von denen wir uns befreien müssten. Das ist allerdings zu kurz gedacht. Der Gott, der die Naturgesetze erlassen hat, der steht selbstverständlich über ihnen und ist durchaus in der Lage, sie auch außer Kraft zu setzen. In Hiob 9,8 wird das Gott übrigens ausdrücklich zugetraut, dass er auf den Wogen des Meeres gehen kann.

Trauen wir es Jesus zu, dass er auch zu uns kommen kann, wenn die Wellen des Leides oder der Anfechtung über uns zusammenschlagen? Die Jünger hielten Jesus für ein Gespenst. Weil sie nicht mit ihm rechnen, deswegen erkennen sie ihn nicht. Vielleicht erkennen wir seine Gegenwart und sein Eingreifen in unserem Leben und in der Gemeinde und unserer Welt deshalb nicht, weil wir gar nicht mit ihm rechnen?

Wir sind eingeladen, neu mit Jesus zu rechnen, auf ihn zu zählen, in jeder Lebenslage, auch dann, wenn wir ihn nicht verstehen und nicht erkennen können.

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. So würde ich es auch abschließend für diese nächtliche Geschichte sagen. Jesus hat seine Jünger weggeschickt, damit sie bei ihm bleiben. Er mutet ihnen Wind und Wellen zu um ihnen zu zeigen, dass er sie auch in der harten Realität des Alltags nicht aus den Augen verliert. Und er schenkt ihnen seine überraschende Gegenwart und zeigt ihnen, dass sie immer mit seinem Eingreifen rechnen können. Ich hoffe und bete, dass wir das auch glauben und erfahren können.

AMEN