Ein Tag im Leben von Jesus –
Jesus und die Jünger (und der Junge)

 

Liebe Gemeinde!

Es gab einen Tag im Leben von Jesus, von dem alle vier Evangelisten berichten. Es ist der Tag, an dem die Speisung der Fünftausend stattgefunden hat. Wenn wir aber die Puzzleteile aus den Berichten von Matthäus (Kap 14), Markus (6,14-56), Lukas (9,7-17) und Johannes (Kap 6) zu einem Gesamtbild zusammensetzen, dann stellen wir fest, dass dieser Tag es in sich hatte. Jesus erfährt, dass Johannes der Täufer enthauptet wurde und dass Herodes am liebsten Jesus auch aus dem Weg räumen will. Dann kommen seine Jünger von ihrem Missionseinsatz zurück und erzählen, was sie alles für großartige Dinge bewirkt und erlebt haben. Jesus sucht mit seinen Jüngern ein ruhiges Plätzchen, aber die Leute wollen Jesus unbedingt erleben und hören. Sie sind nicht zuletzt deswegen so sehr von Jesus begeistert, weil die Jünger bei ihrem Einsatz so „erfolgreich“ gewesen sind. Deswegen finden Jesus und seine Schüler am Ufer vom See Genezareth bei Betsaida keine Ruhe, sondern eine riesengroße Menschenmenge. Weil Jesus Mitleid mit ihnen hat, predigt er, er lehrt und er heilt die Menschen.

Ein voller und anstrengender Tag, ein Tag im Leben von Jesus, der ihm emotional ungeheuer viel abverlangt hat. So langsam neigt sich der Tag nun seinem Ende entgegen. Und als es Abend wurde stand der Stress nicht Jesus auf dem Gesicht geschrieben, sondern den Jüngern. Markus berichtet das folgendermaßen: „Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu Jesus und sagten: »Es ist schon spät und die Gegend hier ist einsam. Schick doch die Leute weg! Sie sollen in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen!«“ Die Überlegungen der Jünger sind rechtmäßig, folgerichtig und bestimmt auch ganz im Sinne Jesu, oder? Schließlich hat er sich stundenlang um sie gekümmert, er hat gelehrt und geheilt. Und jetzt, wo sie hungrig werden, wird es höchste Zeit, dass Jesus sie nachhause schickt. Denn wenn er das nicht bald macht, dann verlangen die Leute womöglich, dass er ihnen auch noch zu essen gibt.

Ich hätte gern den Ausdruck auf dem Gesicht der Jünger gesehen, als sie die Antwort ihres Lehrers, ihres Rabbis hören: „Warum sollen sie weggehen? Das ist gar nicht nötig. Gebt ihr ihnen doch zu essen.“ Was haben die Jünger gedacht, was haben sie gesagt? „Du machst Witze. Das kann nicht dein Ernst sein! Weißt du, wie viele Menschen das sind? Überleg doch mal, was das kosten würde, wenn wir für alle Brot kaufen sollten! Zweihundert Silbergroschen wären nötig, das ist ein Vermögen.“

Lange Zeit habe ich gedacht, die Aufforderung von Jesus an seine Jünger sei nur eine rhetorische Ansage. Ich dachte, dass Jesus seinen Jüngern sagt, sie sollen den tausenden von Menschen zu essen geben, dabei weiß er ganz genau, dass sie dazu doch gar nicht in der Lage sind. Der Evangelist Johannes scheint diese meine Annahme zu bestätigen, denn Jesus wollte demnach seine Jünger auf die Probe stellen, obwohl er genau wusste, was er tun würde. Ich denke immer noch, dass es ein Test war. Aber es war kein Test, um den Jüngern zu zeigen, was sie nicht konnten, wozu sie nicht in der Lage waren. Sondern es war ein Test, um ihnen zu zeigen und zu beweisen, was sie konnten! Jesus sagt nicht: Gebt ihr ihnen zu essen (und ich weiß genau, dass ihr das nie schaffen werdet). Sondern: Gebt ihr ihnen zu essen, ich traue es euch zu, ihr seid dazu in der Lage. Wie kann Jesus das meine, wie kann er das seinen Jüngern zumuten? Nun, immerhin sind die 12 Männer an jenem besagten Tag vormittags zu Jesus zurückgekommen und haben begeistert von dem berichtet, was sie an Ungewöhnlichem und Außergewöhnlichem zustande gebracht haben. Daran sollen sie anknüpfen. „Gebt ihr ihnen zu essen!“

Denn wie haben die 12 Männer das zustande gebracht, was sie vor wenigen Stunden voller Begeisterung berichtet haben. Diese großartigen Dinge wie Krankenheilungen und vollmächtige Verkündigung und Austreibung von bösen Geistern konnten sie doch nur deshalb tun, weil Jesus ihnen dazu die Vollmacht gegeben hatte. Es waren keine übernatürlichen Fähigkeiten, die die Jünger aus sich heraus hatten. Es war nicht ihre Leistung, es war nicht ihr Verdienst, es war nicht ihr Können. Sondern Jesus hat sie beauftragt und bevollmächtigt. Das war das Entscheidende. Und das ist auch jetzt der springende Punkt, wenn Jesus seine Jünger beauftragt, den Menschen zu essen zu geben. Sie hätten einfach Jesus fragen sollen.  Aber anstatt auf Jesus zu blicken und ihn nach seinen Möglichkeiten zu fragen, blicken sie in ihre Geldbörse und entdecken ihre Unmöglichkeiten. Sie sehen die Menschenmenge und hören den Auftrag. Sie sehen ihre Möglichkeiten und verzweifeln an dem Auftrag. Sie vermuten, dass Jesus ihnen eine Aufgabe gibt, die sie nicht bewältigen können und etwas von ihnen verlangt, wozu er ihnen nicht die Gaben und die Kraft gibt.

Ihr Lieben, so ist es doch bei uns auch. Wenn wir mit Jesus unterwegs sind, wenn wir ihm nachfolgen wollen, dann gibt er uns auch Aufgaben. Ich möchte hierbei unterscheiden zwischen der Universalaufgabe, die Jesus allen gibt, die mit Begeisterung und ernsthaft Christ sein wollen, und den speziellen Aufträgen, die er ganz individuell gibt. Die Universalaufgabe für alle Christen ist es, so zu leben, dass wir damit Gott ehren. Denn darin erweisen wir uns als Kinder Gottes mitten im alltäglichen Leben, dass wir unseren himmlischen Vater widerspiegeln. Wenn man uns als Kinder Gottes sieht, dann sollen die Menschen etwas davon spüren und erfahren, wie unser Papa im Himmel ist. Wir sollen Jesus immer ähnlicher werden. Und wir hören diesen Auftrag und sehen unsere Unvollkommenheiten und Persönlichkeitsdefizite - und kapitulieren. Dabei hat Jesus uns nicht dazu berufen, ohne uns auch die Möglichkeiten und die Kraft zu schenken, die nötig sind. Er hat uns den Heiligen Geist gegeben. Der will uns füllen und leiten, prägen und verändern. Und Jesus hat uns sein Wort gegeben. Das soll unser Denken und Fühlen und Wollen, unser Tun und Lassen durchdringen und gewissermaßen imprägnieren. Halten wir uns ihm hin, damit wir mit seiner Kraft ihn immer besser repräsentieren können.

Ein weiterer Universalauftrag ist, dass wir Menschen in die Nachfolge Jesu einladen sollen. Wir sollen darauf hinweisen, dass es einen Gott gibt, dem wir Menschen unendlich wichtig sind und der die Leute dazu einlädt, mit ihm in Beziehung zu treten. Wir sollen den Menschen die Liebe und Vergebung und Versöhnung schmackhaft machen. Wenn wir diesen Auftrag mit einem bildhaften Vergleich beschreiben wollen, dann sollen wir das Brot des Lebens austeilen. Dann sagt Jesus zu uns: Gebt ihr ihnen zu essen. Mit einem Mal stehen wir direkt neben den Jüngern von damals. Und wie die Zwölf fragen wir: Herr, wie soll das gehen? Wir haben doch gar nicht die Möglichkeiten, wir sind eine kleine Truppe, uns fehlt es an Geld und Begabungen, wir sind hoffnungslos überfordert. Und zu alt. Und zu beschäftigt. Aber auch hier hat Jesus uns mit einer Aufgabe betraut, für die er uns auch die Gaben und die Möglichkeiten gegeben hat. Es ist doch seine Gegenwart, die uns befähigt, hinzugehen. Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. Darum geht hin zu den Menschen.

Warum aber macht Jesus das nicht allein? Also ich meine damals, als es darum ging, die Menschen mit Brot zu versorgen. Er hätte das doch auch ohne die Jünger bewerkstelligen können. Und ebenso die Ausführung des Missionsbefehls. Warum schickt er nicht seine Engel wie damals bei den Hirten auf dem Feld in der Nähe von Bethlehem? Ich meine, dass Jesus das tut, weil er die Jünger und uns der Mitarbeit würdigt. Er sieht nicht nur die Würde der Menschen als solche, sondern er will uns Menschen an seinem Wirken teilhaben lassen und in sein Tun einbeziehen. Wir sind nicht zur Passivität verurteilt, sondern zur Mitarbeit geadelt. Ihm ist jeder noch so kleine Beitrag, jeder noch so unscheinbare Einsatz wertvoll und wichtig.

Das stellt Jesus gleich unter Beweis. Denn die Jünger haben da einen Jungen ausfindig gemacht, der sein Proviant zur Verfügung stellen würde. Im Johannesevangelium steht, dass der Jünger Andreas sich zu Wort meldet und sagt: »Hier ist ein kleiner Junge mit fünf Gerstenbroten und zwei Fischen. Doch was nützt uns das bei so vielen Menschen?«

Ich stelle mir die Szene vor. Der Junge hat fünf flache Brotscheiben dabei, die ungefähr so groß sind wie eine Pizza. Gerstenbrot war es, das war das billige Brot für arme Leute. Dazu gab es zwei eingemachte Fische. Der Theologe Fredrik Godet vermutet, dass der Junge sich zuhause die Brote und die Fische in weiser Voraussicht eingepackt hat, um sie zu verkaufen. Der ahnte und hoffte wohl, dass er ein gutes Geschäft machen kann. Aber vor lauter Zuhören kommt er nicht dazu. Wie auch immer, er stellt seinen bescheidenen Warenbestand Jesus zur Verfügung. Vielleicht kam er sich ziemlich albern vor. Nicht nur, dass er auf seinen Verdienst verzichtet, sondern dass er sich natürlich auch fragt, was das bisschen für so viele ist. Lohnt es sich überhaupt, die Jünger darauf aufmerksam zu machen, dass er fünf Gerstenbrotfladen und zwei Fischlein dabei hat? Die Erwachsenen werden ihn auslachen. Er wird sich bis auf die Knochen blamieren. Aber dann nimmt er allen Mut zusammen und spricht den Jünger Andreas an. Und der bringt den Jungen samt seinem Picknickkorb zu Jesus. Jetzt steht der Knabe mitten unter den erwachsenen Männern. Er ist nervös, noch immer kommt er sich dumm vor. Aber selbst, wenn ihn der eine oder andere ausgelacht hat: Jesus hat ihn nicht ausgelacht, sondern Jesus hat ihn angelacht. Jesus hat ihn angestrahlt. Jesus hat angenommen und ernstgenommen, was der Junge mitbringt und einbringt. Der Junge verzichtet auf sein kleines Einkommen, er verzichtet darauf, nur an sich zu denken. Er stellt das bisschen, was er hat, Jesus zur Verfügung.

Dieser Knabe wird uns zum Vorbild. Das bisschen, was wir haben, stellen wir Jesus zur Verfügung. Was ist das? Da ist zuallererst die Zeit für das Gebet. Fürbitte ist die vornehmste und größte Form der Mitarbeit im Reich Gottes. Darum ist es auch so wichtig und richtig, dass wir wieder das Gebet für die Stadt reaktiviert haben. Aber jede und jeder zuhause im stillen Kämmerlein soll und darf betend seinen Einsatz leisten.

Jeder noch so kleine Beitrag im Leben der Gemeinde ist wertvoll. Alles, was wir Jesus zur Verfügung stellen, kann er dazu gebrauchen, dass Menschen satt werden. Das gilt für die Spende zugunsten von Hungernden und Notleidenden in der Welt und das gilt für die Kollekte im Gottesdienst.

Nachdem der Junge seinen Essensvorrat Jesus gegeben hat, passiert noch etwas bemerkenswertes. Wir sehen, dass Jesus betet. Wahrscheinlich deuten die meisten von uns das als Tischgebet. So beobachten wir Jesus in dieser Szene und denken uns, dass Jesus so, wie sich das nun mal gehört, ein kurzes Gebet spricht. Aber ich habe den Eindruck, dass das bei Jesus nicht nur eine gute Gewohnheit und eine Tradition ist, die er bei jeder Mahlzeit pflegt. Denn in den biblischen Anweisungen gibt es das Tischgebet VOR der Mahlzeit gar nicht. Sondern im Judentum wird NACH dem Essen gebetet: „Wenn du gegessen hast und satt geworden bist, dann sollst du dem Herrn, deinem Gott danken.“ So in etwa steht es in 5. Mose 8.

Ich meine, dass Jesus diese Zeit der persönlichen Zwiesprache mit seinem Vater gebraucht hat. Jesus musste innehalten, nur einen Moment. Er war umgeben von Menschen, die nach Essen verlangt haben. Die Jünger waren bei ihm, die so vieles noch nicht verstanden hatten. Statt auf ihn und seine Möglichkeiten zu trauen, haben sie nur ihre Unmöglichkeiten gesehen. Der Junge hat Jesus alles anvertraut, was er hatte. Jesus brauchte eine Minute in der Stille, in der Gegenwart seines Vaters, der ihn verstanden hat. Jesus brauchte inmitten des Trubels den kurzen Austausch mit dem, der ihn geliebt hat. Jesus hat den Klang von seiner himmlischen Heimat gehört. Er hat sich vergewissert, dass er und der Vater untrennbar sind, dass sie eins sind.

Wenn Jesus solche Momente gebraucht hat, in denen er einfach nur den Blick nach oben richtet, dann brauchen wir das auch, oder? Denn das hat Jesus wieder die Kraft gegeben, die er an diesem besonderen Tag benötigt hatte.

AMEN