Ein Tag im Leben von Jesus –
Jesus wehrt sich und betet

 

Liebe Gemeinde!

Es ist nicht ein Tag wie der andere. Das ist eine Binsenweisheit, die wir alle kennen. Und wir wissen auch, dass wir den Tag nicht vor dem Abend loben sollen. Aber es gibt ja zum Glück auch die Erfahrung, dass das Ende des Tages besser ist, als man noch am Morgen befürchten musste. Wie war das denn an jenem besagten Tag, über den ich in den letzten Wochen immer wieder gepredigt habe? Ich würde aus meiner Perspektive sagen, dass das unterm Strich doch ein sehr gelungener und erfolgreicher Tag gewesen ist. Oder? Jesus hat tausenden von Menschen viel Gutes getan. Er hat die Kranken geheilt, er hat gepredigt, er hat gelehrt. Und schließlich hat er zigtausend Menschen satt gemacht. Jesus hätte durchaus zufrieden sein können. Und die Jünger natürlich auch.

Aber der Tag war mit dem gelungenen Abendessen ja noch nicht zu Ende. Es war noch kein Feierabend, nachdem die Jünger die Reste vom Feste, vom Brot und den eingelegten Fischen eingesammelt hatten. Denn die Resonanz auf dieses Wunder der Brotvermehrung ist überwältigend. Die Leute sind schier aus dem Häuschen. Sie sehen in Jesus die Erfüllung der göttlichen Verheißung. Gott hat doch seinem Volk versprochen, dass er ihnen einen zweiten Mose senden wird. Mose selbst hatte die Zusage Gottes so formuliert: „Einen Propheten wie mich wird der HERR immer wieder aus euren Brüdern, aus eurer Mitte, berufen; auf den sollt ihr hören.“ In der damaligen Volksfrömmigkeit hat man darauf gewartet, dass dieser Prophet nicht nur in göttlicher Vollmacht und Autorität auftritt, wie seinerzeit Mose es getan hat. Sondern der neue Mose wird auch wie der Mose damals das Volk aus der Gefangenschaft, der Unterdrückung, der Versklavung befreien. Damals hat Mose das Volk aus Ägypten geführt und von dem Joch der Sklaverei befreit. Der zweite Mose wird sein Volk von den Römern und den pseudojüdischen Statthaltern von Roms Gnaden befreien. Einer von denen war übrigens Herodes Antipas, der Johannes den Täufer hat enthaupten lassen und der auch Jesus aus dem Weg räumen will. Das Volk sieht in Jesus diesen gottgesandten Propheten. Alle Hoffnungen, alle Erwartungen projizieren sie auch Jesus. Die Stimmung ist euphorisch, die Stimmen klingen nach Triumph, nach Zustimmung. Der Beifallssturm ist großartig. Es kann losgehen. Die Volksmenge hat alles, was sie braucht. Sie haben ihren Anführer, den Leader, den König. Sie haben seine Mitarbeiter, seine Vertrauten, die Jünger (denn die haben ja schon unter Beweis gestellt, dass sie es drauf haben!). Die Versorgung ist auch gewährleistet, denn was Jesus eben geschafft hat, das wird er immer wieder zustande bringen. Sie haben einen Märtyrer! Johannes der Täufer musste sterben, weil er für das Recht Gottes eingetreten ist. Sie haben einen gemeinsamen Feind: Herodes und die Römer. Und was natürlich auch nicht übersehen werden darf: Sie haben schon mal 5000 Männer. 5000 potenzielle Kämpfer. 5000 Soldaten. Es ist angerichtet. Worauf noch warten? Die Zeit ist gekommen. Israel wird wieder zum starken Gottesvolk aufsteigen. Die Menschenmasse war in Revolutionsstimmung!

Was aber würde das für Jesus bedeuten? Das würde Macht und Einfluss bedeuten. Er würde wirklich der neue König der Juden sein. Er, der von Gott verheißene Prophet, wäre außerdem auch der große und untadelige Hohepriester. Denn es wird ja allerhöchste Zeit, dass die Priesterdynastie um den alten Hannas und seinen Schwiegersohn Kaiphas entmachtet wird. Jesus würde also mit einem Schlag für sein Volk König, Priester und Prophet. Und das alles ohne Opfer, Kreuz und Tod.

Jesus hört die Stimmen und er weiß um die Stimmung. Er fühlt die Verlockung und spürt die Versuchung. Und das passiert ihm nicht zum ersten Mal. Gleich zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit wurde Jesus im Anschluss an seine Taufe und nach einer ausführlichen Gebets- und Fastenzeit vom Teufel auf die Probe gestellt, er wurde in eine lebensbedrohliche Versuchung geführt. Der Teufel probiert alles, um Jesus auf Abwege zu bringen, Abwege, die ihn von Gott zu trennen und ihn von seinem Opfertod am Kreuz abzuhalten. Im Lukasevangelium steht am Ende, dass der Teufel nach diesen gescheiterten Versuchen ein Zeitlang Jesus in Ruhe gelassen hat. Aber eben nur eine für einige Zeit. Das heißt, dass es in der Folge weitere Störmanöver gab, die Jesus von seiner eigentlichen Mission abhalten sollten.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Menschen wild entschlossen sind, die Gunst der Stunde zu nutzen. Und Jesus wusste das! In Johannes 6,15 lesen wir: „Jesus wusste, dass sie als nächstes kommen und versuchen würden, ihn mit Gewalt zum König zu machen.“ Wir spüren hoffentlich, wie prekär, wie gefährlich diese Situation für Jesus gewesen ist! Aber er kennt seine Berufung, er kennt seinen Weg. Sein Weg ist nicht der vordergründige Ruhm, nicht der oberflächliche Applaus; nicht das Rampenlicht, nicht der Umsturz und die Rache. Auf diesem Weg kann er die Herrschaft Gottes nicht aufrichten. Auf diese Art wird er die Menschen nicht mit Gott versöhnen können. Auf diese Weise wird er den Teufel und seine Werke nicht überwinden und zerstören können. Sondern es wird nur über das Kreuz gelingen. Nur durch seinen Tod kann er den Tod bezwingen. Nur wenn er in die tiefste Hölle herabsteigt, kann er uns aus den Abgründen unseres Lebens befreien. Nur wenn er mit dem Kostbarsten, was es gibt: seinem sündlosen Leben, für unsere Sünde bezahlt, können wir das ewige Leben kosten. Das wusste Jesus, und deswegen hat er der Versuchung nicht nachgegeben, er hat sich nicht zum König und Revolutionsführer machen lassen.

Was bedeutet das für uns? Zuerst heißt das für uns, dass wir unserem wahren König von Herzen dankbar sind. Er ist für uns nicht auf die Welt gekommen, um sich dienen zu lassen, um sich aufgrund seiner Wunder ins Rampenlicht stellen zu lassen. Sondern er ist gekommen, um sein Leben als Lösegeld einzusetzen. Darum gilt ihm unsere Anbetung, ihm gebühren Ehre und Lob, Preis und Dank. Denn nur er allein ist würdig, angebetet zu werden.

Des Weiteren bedeutet es für uns, dass wir in der Nachfolge Jesu auch nicht darauf aus sein sollen, zu unserer eigenen Ehre zu leben. Wer ein Nachfolger Jesu sein will, um dadurch groß rauszukommen, um seinen eignen Willen durchzusetzen, um den persönlichen Ruhm, den Applaus von anderen einzuheimsen, der hat etwas gründlich missverstanden. Es geht in der Nachfolge auch nicht darum, dass wir ein angenehmes und glückliches Leben hier genießen können. Es geht in der Nachfolge nicht darum, aller Sorgen ledig und möglichst bequem und unbehelligt ruhige Tage zu erleben. In Matthäus 16,24 lesen wir: „Wer mir folgen will, muss sich und seine Wünsche aufgeben, sein Kreuz auf sich nehmen und auf meinem Weg hinter mir hergehen.“ In der geläufigen Übersetzung von Martin Luther steht, dass wir uns selbst verleugnen sollen. Was damit gemeint ist, können wir verstehen, wenn wir uns mal anschauen, wie einer einen anderen verleugnet. Das geläufigste Beispiel ist das, wo Petrus Jesus verleugnet. Petrus hatte damals gesagt, dass er Jesus nicht kennt, dass er nichts von ihm weiß und mit ihm auch nichts zu tun haben will. Das also sollen wir mit Bezug und Blick auf uns selbst sagen. Ich sage: Mit dem alten Frank will ich nichts mehr zu tun haben. Von seinem alten Wesen und seiner Art will ich mich nicht mehr bestimmen lassen. Ich lasse mich von ihm nicht mehr beraten und führen. Ich will Jesus mehr lieben und ihm mehr dienen als mir selbst. Ich will mehr auf das bedacht sein, was Gott ehrt als auf das, was meinem Vorteil dient.

Das ist damit gemeint. In dieser Haltung hat Jesus gelebt, in dieser Haltung sollen wir ihm folgen.

Nun kommen wir wieder zurück zu jenem besagten Tag im Leben von Jesus. Er wusste, wie schon erwähnt, dass sie als nächstes kommen und versuchen würden, ihn mit Gewalt zum König zu machen. Was hat Jesus gemacht? Matthäus wiederum berichtet uns das ziemlich genau. „Gleich darauf drängte Jesus die Jünger, ins Boot zu steigen und ans andere Seeufer vorauszufahren. Er selbst wollte erst noch die Menschenmenge verabschieden. Als er damit fertig war, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Als es dunkel wurde, war er immer noch dort. Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See. Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen“ (Matthäus 14,22-24). Die Reihenfolge ist bemerkenswert. Zuerst drängt Jesus seine Jünger ins Boot. Er schickt sie mit Nachdruck und Vehemenz fort! Jesus weiß ganz genau, wie sehr seine Jünger gefährdet sind. Sie würden sich mit Sicherheit von der Begeisterung der Menschenmassen mitreißen lassen und mit den anderen skandieren: Jesus, unser neuer König. Jesus, König der Juden. Jesus, König der ganzen Welt. Jesus bewahrt seine Männer vor der Gefahr der menschlichen Lösungswege.

Dann entlässt Jesus die Menschenmenge; das macht er also allein, ohne seine Jünger. Er wehrt sich ausdrücklich gegen die Versuchung, den Menschen zu Willen zu sein. Er lässt sich auf keine Lösung ein, die nicht die Erlösung von der Sünde beinhaltet.

Anschließend geht er allein auf einen Berg, um zu beten. Denn Jesus stand vor einer ungeheuer schwierigen Aufgabe. Da waren fünftausend Männer, die für einen Kampf bereit waren, den Jesus aber nicht führen wollte. Und auch wenn er sie jetzt erstmal weggeschickt hat, wird er ihnen klar machen müssen, dass er nicht gekommen ist, um König zu werden, sondern um sein Leben als Lösegeld zu opfern. Er musste ihren Blick lenken vom irdischen Königreich hin zu seinem geistlichen Königreich. Er musste diejenigen für das Ewige sensibel machen, die nur Augen für das Zeitliche hatten. Weil das eine ausgesprochen heikle Angelegenheit ist, deswegen zieht Jesus sich zum Beten zurück. Wahrscheinlich hat er genau über diese Herausforderungen mit seinem Vater gesprochen. Und er hat vielleicht darum gebetet, dass die Menschen nicht nur nach Brot für den Leib gieren, sondern nach Lebensbrot, das ihnen die Ewigkeit gewährt. Er betet um die Erkenntnis bei den Menschen, dass seine Herrschaft nicht durch eine Revolution mit Soldaten aufgerichtet wird, sondern durch eine Revolution der Liebe. Er betet für seine Jünger, dass sie sich nicht von der begeisterten Menschenmenge blenden lassen, sondern im Licht Jesu bleiben.

Aber ich vermute mal, dass Jesus in dieser Gebetszeit nicht nur geredet hat, sondern dass er auch einfach nur in der Gegenwart seines Vater gewesen ist und auf seine Stimme gehört hat. Nachdem an dem zurückliegenden Tag so viele Stimmen auf ihn eingeprasselt sind, war es ihm ein dringendes Bedürfnis, die Stimme seines Vaters zu hören. Und während der Sturm auf dem See Genezareth und der äußere Wind um ihn herum immer mehr zunimmt, kommt er am Ende dieses langen und aufwühlenden Tages in der Gegenwart Gottes zur Ruhe. Jesus betet. Während die Menschen wahrscheinlich über ihn murren, betet er. Während die Jünger vielleicht enttäuscht sind und verzweifelt gegen die Wellen ankämpfen, betet Jesus.

Auch aus diesen Beobachtungen können und sollen wir für unser Leben mit Jesus lernen. Jesus hat es immer wieder praktiziert und tatsächlich auch mehr und mehr gelernt, auf die Stimme seines Vaters zu hören. In gleicher Weise sollen wir es auch mehr und mehr lernen, auf seine Stimme zu hören. Wenn Jesus sich als den guten Hirten bezeichnet und uns als die Schafe seiner Herde betrachtet, dann sagt er, dass es unsere vornehmste Aufgabe ist, auf seine Stimme zu hören, weil wir ihm gehören. Denn er ruft uns, er führt uns, er leitet uns.

Auf seine Stimme hören, das ist für uns sowohl nötig als auch schwierig. Denn auch bei uns gibt es tausend Stimmen und Verlockungen, die aber nicht mit dem übereinstimmen, was Jesus für uns vorgesehen hat. Die Stimmen um uns herum, die Jesus ignorieren, sind sehr dominant. Und wie selbstverständlich leben viele Menschen ohne ihn. Das prägt mehr und mehr unsere Gesellschaft. Diese Verlockungen hämmern regelrecht auf uns ein. Jesus dagegen klopft bei uns an. Die Gottlosigkeit schreit laut, Jesus dagegen bittet sanft und liebevoll. Darum brauchen wir Mut, um auf ihn zu hören. Und wir sollen angesichts der großen Herausforderungen in unserem oftmals stürmischen Leben beten, mit Jesus reden und auf seine Stimme hören. Das gilt auch für uns als Gemeinde: mit ihm reden und auf ihn hören. Und wenn die stürmischen Wellen uns durchschütteln, dann sollen wir beten und hören.

AMEN