Jesaja 1,10-20

 

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Mit einem donnernden Paukenschlag beginnt der Text, der größtenteils direkte, wörtliche Rede Gottes ist. Sie hört sich so an:

 

„Ihr Führer des Volkes gleicht den Fürsten Sodoms. Hört, was der Herr euch zu sagen hat! Und ihr vom Volk seid wie die Einwohner Gomorras; achtet genau auf die Weisung unseres Gottes! Der Herr fragt: «Was soll ich mit euren vielen Opfern anfangen? Ich habe genug von euren Schafböcken und dem Fett eurer Mastkälber; das Blut eurer Opfertiere ist mir zuwider, sei es von Stieren, Ziegenböcken oder Lämmern. Ihr kommt zum Tempel und denkt: 'Hier ist Gott gegenwärtig.' Doch in Wirklichkeit zertrampelt ihr nur meinen Vorhof. Wer hat euch das befohlen? Hört endlich mit diesen nutzlosen Opfern auf! Ich kann euren Weihrauch nicht mehr riechen. Ihr feiert bei Neumond und am Sabbat, ruft Versammlungen aus, aber ich ertrage nicht Frevel und Feier. Darum hasse ich alle diese Festversammlungen! Sie sind mir eine Last, ja, sie sind unerträglich für mich! Streckt nur eure Hände zum Himmel, wenn ihr betet! Ich halte mir die Augen zu. Betet, soviel ihr wollt! Ich werde nicht zuhören, denn an euren Händen klebt Blut.“

 

Das ist ein Affront erster Klasse. Die religiösen Leiter werden mit den Fürsten der schlimmsten, schrecklichsten und frevelhaftesten Stadt aller Zeiten verglichen. Die Bewohner von Jerusalem werden mit verdorbenen Bürgern der Stadt Gomorra auf eine Stufe gestellt. Was veranlasst Gott zu so einer Wutrede?

 

Dr. Helmuth Egelkraut vermutet in seiner Erklärung zum Textabschnitt den historischen Hintergrund in einem Ereignis, das sich um das Jahr 701 v.Chr. zugetragen hat. Das Königreich Juda und vor allem die Hauptstadt Jerusalem wurden vom Weltenherrscher Sanherib teilweise erobert und belagert. Damals war Hiskia, der noch nach Gott gefragt hat, König in Jerusalem. Ihm hatte Jesaja das Versprechen Gottes gegeben, dass die Assyrer Jerusalem nicht erobern und nicht zerstören werden, sondern dass Stadt und Tempel bewahrt bleiben. Die ausführliche Erzählung dieser Ereignisse ist in Jesaja 36 und 37 nachzulesen. Und dann, so vermutet Egelkraut, haben die Leute von Jerusalem ein großes Volksfest mit Dankgottesdienst und Opfergaben und Räucherwerk gefeiert. Sie haben das volle Programm aufgefahren, sie haben an nichts gespart, sondern sie haben es richtig krachen lassen. Und wenn der große Versöhnungstag der Rahmen dieses Festes gewesen ist, wie der Theologe Egelkraut annimmt, dann hat der Hohepriester dem Volk zugesichert: Gott hat euch alles vergeben, ihr seid gerecht, es ist alles gut!

 

In diese Versammlung, in diese Stimmung grätscht Jesaja rein und präsentiert die ungeschminkte Kritik Gottes an den ganzen gottesdienstlichen Zeremonien und Opfern und Gesängen und Gebeten. Gott lässt ihnen ausrichten, dass ihm das alles ganz mächtig stinkt. Sie sind in letzter Sekunde vor dem Untergang bewahrt worden. Und es ist nur recht und billig, dass sie Gott die besten Opfer bringen und mit viel Glanz und Gloria die Gottesdienste feiern. Aber Gott sagt, dass er die Nase gestrichen voll hat von dem ganzen Tamtam. Er kann das alles nicht mehr mit ansehen, weil das Volk mit den frommen Festen die frevelhaften Frechheiten verdecken wollen. Gott hält sich die Ohren zu, wenn sie beten, weil nicht nur die frommen Worte zum Himmel aufsteigen, sondern das ganze Unrecht zum Himmel schreit. Zwar haben die religiösen Leiter und die verantwortlichen Zeremonienmeister mit großer Sorgfalt peinlich genau beachtet, den Anordnungen Gottes und den Traditionen Genüge zu tun. Rein äußerlich gab es nichts zu beanstanden. Aber das Herz war nicht dabei. Und ihre Lebensgestaltung war nicht im Sinne Gottes. In Jesaja 29 formuliert der Mann Gottes die Kritik mit folgenden Worten: „Dieses Volk gibt vor, mich zu ehren - doch sie tun es nur mit den Lippen, mit dem Herzen sind sie nicht dabei. Ihre Frömmigkeit beruht nur auf Vorschriften, die Menschen aufgestellt haben.“

 

Leider gibt es durch alle Zeiten hindurch ständig Grund und Ursache, diese Kritik des Jesaja zu wiederholen. Eine allgemeine Volksfrömmigkeit oder Grundfrömmigkeit hat ja schon unser christliches Abendland geprägt. Unsere Kultur ist vielfach durchdrungen von biblisch-christlichen Werten. Die entsprechenden Feiertage gehören immer noch zu unserem Festtagskalender. Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten werden gefeiert. Auch Fronleichnam und das Erntedankfest haben noch eine Verankerung bei uns. Diese Feste werden oft mit Glanz und Gloria und viel Aufwand gefeiert. Aber gleichzeitig gibt es die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in kirchlichen Kreisen. Und Kirchengemeinden und Landeskirchen investieren in leerstehende Gebäude und pflegen mehr die Denkmäler als dass das Evangelium verkündigt wird. Und in der Gesellschaft, die Weihnachten feiert und sich über die Geburt von Jesus freut, werden tausende von Kindern dran gehindert, geboren zu werden, weil sie vorher abgetrieben worden sind. Auch wenn Pfingsten noch im Kalender steht und der Pfingstmontag als zusätzlicher Feiertag gern in Anspruch genommen wird, haben wir den Eindruck, dass viele von allen guten Geistern verlassen sind und sich auf abergläubische Dinge einlassen. Horoskope und dergleichen werden öfter gelesen als die Bibel.

 

Und dann habe ich so eine beklemmende Befürchtung, dass wir in der Kirche ganz allgemein und auch in der Gesellschaft zwar Gott in den Ohren liegen, dass er endlich das Corona-Elend beseitigt. Aber wenn es dann irgendwie der Fall sein sollte und wir vielleicht sogar Dankgottesdienste feiern, könnte es nicht dann auch so sein wie zu Jesajas Zeiten? Es wird gedankt, gesungen, gelobt und geredet, aber eine Hinwendung der Herzen zu Gott und eine entsprechende Lebensgestaltung blieben aus.

 

Nun könnten wir noch weitere Missstände in unserer Gesellschaft aufzählen, die im Widerspruch zu Gott und seinem Wort stehen. Dabei sehe ich allerdings die Gefahr, dass wir nur für andere hören und denken, dass wir selbst ja nicht so schlimm sind. Darum will uns und natürlich auch mich mal fragen, inwiefern die Kritik aus Jesaja 1 uns heute noch betrifft. Ich meine, dass Gott bei uns nachfragt, wie Gottesdienst als Veranstaltung, als Herzenshaltung und als Lebensgestaltungen übereinstimmen. Was hat unsere Frömmigkeit für Auswirkungen auf unseren Alltag?

 

Ich will bespielhaft nur auf ein christliches Fest eingehen, das wir kürzlich gefeiert haben: Ostern. Wir feiern die Auferweckung Jesu von den Toten. Wir feiern nicht nur, dass Jesus sich selbst als Opfer für unsere Sünden eingesetzt hat, sondern dass Gott seinen Sohn dem Tod entrissen und somit ewiges Leben ermöglicht hat. Gott schenkt uns im Glauben an Jesus neues, ewiges Leben, lebendige Hoffnung. Der Jesus, der selbst durch Tiefen und Abgründe gegangen ist, begleitet uns auch durch unsere Tiefs und Täler, Tränen und Trauer. Und der Jesus, der uns den Himmel ermöglicht, der will uns im Alltag mit Hoffnung und Kraft und Trost und Freude beschenken. Prägt dieser Glaube unsere Herzenshaltung und unsere Lebensgestaltung? Sind wir Hoffnungsträger oder Bedenkenträger. Ermutiger oder Entmutiger? Stimmen wir in die Grundmelodie der Zuversicht ein oder stoßen wir in das gleiche Horn wie die, die sich empören und entrüsten und deren zweiter Vorname Unzufriedenheit ist.

 

Und dann lasst uns schauen, wie die lebendige, christliche Hoffnung unser Leben und Engagement in der Gesellschaft prägt und durchdringt. Dann lasst uns zu den Menschen hingehen und ihnen das Leben erleichtern und ihnen Hoffnung bringen. Denen, die ohne Hoffnung leben, sollen wir helfen.

 

Das prophetische Wort kritisiert sehr deutlich, es bleibt aber nicht bei der Kritik stehen. Sondern es gibt auch klare Handlungsanweisungen, was zu tun ist. Das finde ich sehr gut. Ich erlebe viel Kritik an der Regierung, an Ministerien und Behörden, an Bauvorhaben und politischen Entscheidungen. Zum Teil ist die Kritik sehr berechtigt und nachvollziehbar. Aber ich vermisse sinnvolle Alternativen. Ich vermisse Wege und Möglichkeiten, aus der Misere und dem Dilemma rauszukommen. Das Wort ist da anders, pragmatischer. Bei Jesaja hört sich das so an:

 

„Wascht euch, reinigt euch von aller Bosheit! Lasst eure Gräueltaten, hört auf mit dem Unrecht! Lernt wieder, Gutes zu tun! Sorgt für Recht und Gerechtigkeit, tretet den Gewalttätern entgegen, und schafft den Waisen und Witwen Recht! (…) Wenn ihr mir von Herzen gehorcht, dann könnt ihr wieder die herrlichen Früchte eures Landes genießen. Wenn ihr euch aber weigert und euch weiter gegen mich stellt, dann werdet ihr von euren Feinden umgebracht. Darauf gebe ich, der Herr, mein Wort!“

 

Diese Aufforderung ist nicht schwer zu verstehen. Sie lautet einfach: „Bessert euch!“ So eine Aufforderung hört niemand gern. Es nicht besonders erquicklich und es macht zunächst auch nicht glücklich. Aber wenn ich die Ermahnung gehört habe, dann hat sie auf meine Defizite aufmerksam gemacht und mich gefragt, ob ich daran was ändern will. Willst du dich ändern? Willst du dich verbessern? Willst du raus aus dem Unrecht und der oberflächlichen Scheinfrömmigkeit? Dann pack es auch an! Manchmal wollen wir ja gar nichts ändern. Wir wollen eigentlich bei dem bleiben, woran wir uns gewöhnt haben, was uns ganz gut in den Kram passt, was uns gewisse Vorteile zu bringen scheint. Aber ohne unseren Willen zur Veränderung wird es kaum möglich sein, dass wir schlechte Gewohnheiten und sündiges Verhalten lassen. Deswegen ist es unabdingbar, dass wir ein gottgefälliges und gottesdienstliches Leben führen wollen. Andernfalls rennen wir ins Verderben.

 

Aber schaffen wir das denn? Können wir uns selbst so weit optimieren, dass wir über jede göttliche Kritik erhaben sind? Können wir uns selbst reinigen? Wir sind doch gar nicht dazu in der Lage, oder? Einerseits sollen wir Gutes tun! Unbedingt und ohne Zweifel! Andererseits scheitern wir viel zu häufig an uns selbst, weil das Böse uns in seinen Bann zieht wie ein Magnet. Einerseits sollen wir künftig Schuld und Schlechtigkeit meiden. Andererseits können wir aber geschehenes Unrecht nicht wieder gut machen. Es ist zum Verzweifeln: Gott kritisiert zurecht unser Fehlverhalten. Er fordert uns auf, dass wir uns ändern und bessern sollen. Und dann stellt er fest, dass wir das nicht auf die Reihe kriegen. Da haben viele Menschen die Vorstellung, dass Gott über sie den Kopf schüttelt und das vernichtende Urteil spricht: „Du bist so ein jämmerlicher Versager. Meinen Ansprüchen wirst du niemals gerecht werden.“

 

Das wäre ein jämmerliches Ende, ein furchtbares Resümee, eine grauenhafte Bilanz. Aber Gott bleibt dabei nicht stehen. Sondern er lädt ein: „Kommt, lasst uns die Sache zurechtbringen.“ In der Regel wird die Aufforderung im Vers 18 verstanden wie eine Abrechnung, wie eine Gerichtsverhandlung: „Kommt, lasst uns miteinander rechten. Wollen wir doch mal sehen, wer von uns im Recht ist, ihr oder ich!“ Aber das hebräische Wort an dieser Stelle hat auch den Wohlklang, dass eine Sache wieder in Ordnung gebracht wird. Gott will unsere Sache selbst in Ordnung bringen! „Eure Sünden sind blutrot, und doch sollt ihr schneeweiß werden. Sie sind so rot wie Purpur, und doch will ich euch reinwaschen wie weiße Wolle.“ Rot ist hier nicht die Farbe der Liebe, sondern die Farbe der Sünde, des Blutvergießens. Und wer schon mal versucht hat, einen Blutfleck auf einem Kleidungsstück aus Wolle rauszukriegen, der weiß, wie mühsam das ist. Gott aber packt das an und er schafft es. Die Farbe Weiß dagegen ist in der Symbolik der Inbegriff von Reinheit, Unschuld und Gerechtigkeit. Die aber kann nur Gott schaffen, denn nur Gott kann Sünde wegtun. Diese Botschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch des Propheten Jesaja. So steht beispielsweise in Kapitel 4,4, dass der HERR den Unflat der Töchter Zions abwaschen und die Blutschuld Jerusalems wegnehmen wird. In Kapitel 43,24f lesen wir: „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten. Ich, ich tilge deine Übertretung um meinetwillen und gedenke deiner Sünde nicht.“ Das alles findet seine Erfüllung in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, von dem schon in Jesaja 53 gesagt wird, dass Gott unser aller Sünde auf ihn warf und dass er uns die Vergebung zusichert.

 

Vor diesem Hintergrund erkennen wir, dass die göttliche Kritik nötig und hilfreich ist. Gott zeigt auf, was uns von ihm trennt und wie es um uns bestellt ist. Darum fordert uns auf, dass wir uns ändern sollen. Er macht unsere Lebensänderung, er macht die Vergebung unserer Schuld aber zu seiner Sache, er erklärt das zur Chefsache. Und weil er uns vergibt, deswegen sollen wir auch bereit sein, uns zu bessern und uns von ihm verändern zu lassen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

AMEN