Hinführung zu dem Propheten Jesaja

 

 

 

Heute starten wir eine neue Predigtreihe. In den nächsten Wochen möchte ich mit euch die biblische Botschaft des alttestamentlichen Propheten Jesaja betrachten. Jesaja wirkte und predigte von etwa 740 v.Chr. bis circa 697 v.Chr. Er war Prophet in Jerusalem im Königreich Juda. In seiner über 40-jährigen Wirkungszeit hat er vier Könige erlebt, beraten und kritisiert. Seine Heimat, das kleine Juda, war politisch bedroht durch die aufstrebende Weltmacht der Assyrer. Auch das Nordreich Israel und die Aramäer haben Jerusalem das Leben schwer gemacht. Und im Südwesten war Ägypten, das auch nicht zu den besten Freunden Judas gehört hat.

 

Ich kann mir gut vorstellen, dass manche jetzt schon innerlich abschalten. „Das klingt doch ziemlich langweilig. So alte Geschichten aus einer alten Zeit sind nichts für mich. Damit können sich Historiker und Literaturwissenschaftler oder Theologen beschäftigen.“ Ich kann solche Einwände gut verstehen. Denn die damalige Welt, die damaligen Lebensbedingungen, die wirtschaftlichen und religiösen und politischen Herausforderungen, das alles ist uns in vielerlei Hinsicht fremd. Ebenso entsprechen die literarische Gestalt der insgesamt 66 Kapitel im Buch Jesaja und seine Bildersprache nicht mehr unseren Lesegewohnheiten. Wir haben es mit sehr alten Texten zu tun, bei denen wir uns zurecht fragen, was die mit uns heute noch zu tun haben. Sind die Schriften des alten Jesaja für uns überhaupt noch aktuell? Was wollen die Worte uns heute noch sagen? Wie gesagt: solche Einwände sind berechtigt und verständlich. Aber wir sollten dabei folgendes nicht aus den Augen verlieren.

 

Zunächst mal ist es sehr spannend, dass uns diese Schriften über 2700 Jahre hinweg erhalten geblieben sind. Durch die Funde der Schriftrollen von Qumran am Toten Meer in den 1950er Jahren wissen wir ja, dass die uns heute vorliegenden Texte mit dem Original übereinstimmen. Die Worte von Propheten wurden aufgeschrieben, damit sie von Generation zu Generation überliefert werden können. Dabei sind sie nicht bloß historische Erinnerungen, sondern sie werden in jeder Generation für die je aktuelle Situation neu gehört. Denn die Botschaft ist bis heute noch ganz aktuell. Denken wir nur an das prägnante Motto „Schwerter zu Pflugscharen“, das in Jesaja 2,4 seinen Ursprung hat. Die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit waren schon im 8. Jahrhundert vor Christus drängend und brisant. Das gottesdienstliche Leben, eine kommerzialisierte Scheinfrömmigkeit, Gleichgültigkeit dem Wort Gottes gegenüber, alles das gab es auch schon zur Zeit des Jesaja. Eine Gesellschaft und eine Politik ohne Beziehung zu Gott, ohne Vertrauen auf Gott wurden von Jesaja kritisiert; diese Kritik ist bis heute leider bitter nötig. Viele Verhaltensmuster der Menschen sind genauso wie früher. Aber auch die Grundstrukturen der Beziehung Gottes zu seinen Menschen haben sich nicht verändert. Damals wie heute und wie zu allen Zeiten ermutigt er sein Volk und alle Menschen, ihm zu vertrauen, an ihn zu glauben und ihm zu gehorchen. Denn es ist niemals eine automatische Selbstverständlichkeit, mit Gott das Leben zu gestalten und seine Lebensangebote zu befolgen.

 

Wir merken mehr und mehr, dass uns die alten Worte durchaus was zu sagen haben und aktueller sind als wir zunächst vermutet haben. An dieser Stelle will ich noch eine Bemerkung zum Selbstverständnis biblischer Prophetie machen. Meist denken wir bei Propheten an Männer oder Frauen, die Weissagungen für die Zukunft aussprechen. Aber ihnen geht es zuerst darum, Gottes Wort und seinen Willen in der jeweiligen Situation zu verkündigen. Wie die Menschen darauf antworten, wie sie das befolgen, das wirkt sich natürlich auf ihre Zukunft aus. Aber der Prophet ist zunächst ein „Künder“, ein „berufener Rufer“ im Hier und Jetzt. Denn die Zukunft ist offen, sie ist nicht zwangsläufig festgelegt. Je nachdem wie wir Gottes Wort befolgen, wird unser Leben, wird die Zukunft, wird die Ewigkeit aussehen. Und wenn Gott für den Fall des Ungehorsams entsprechende Konsequenzen ankündigt, dann darf man das nicht als Drohbotschaft verunglimpfen, sondern dann ist das liebevolle Fürsorge Gottes. Darin zeigt sich doch zuerst die Liebe Gottes zu den Menschen, dass er uns die Entscheidungsmöglichkeit gibt, mit ihm oder ohne ihn zu leben. Gott aber will allemal und unbedingt das Heil für uns Menschen. Somit ist der Name des Jesaja zugleich auch das Programm seiner Botschaft: „Mein Heil ist Gott“ beziehungsweise „Gott, der Herr, schafft Heil“.

 

 

 

Predigt über Jesaja 1,1-9

 

 

 

Lesung Jesaja 1,1-9

 

Liebe Gemeinde, liebe Freunde!

 

Jesaja startet ohne lange Vorrede gleich mit einer Anklage Gottes gegen sein Volk. Eine Anklage, die voller Trauer und Mitleid ist, die darum mehr Klage als Anklage ist. Gott wird hier und an etlichen anderen Stellen beim Propheten Jesaja als der „Heilige Israels“ bezeichnet. Dabei ist Gott aber nicht nur für Israel der eine, der unvergleichliche Gott, sondern er ist universal Gott für alle Menschen, für Himmel und Erde. Was aber ist damit gemeint, dass Gott heilig ist? Zunächst mal meint das Wort „heilig“, dass jemand oder etwas einzigartig ist. Wir sagen ja auch, dass uns ein Mensch oder ein bestimmter Gegenstand „heilig“ ist. Dann ist er ganz besonders, ganz wertvoll und unfassbar wichtig und kostbar. Mir sind zum Beispiel meine Familie, meine Frau und meine Kinder außerordentlich wichtig, kostbar, wertvoll. Oder meine Gitarre ist mir „heilig“. Sie ist ein wunderbares Instrument, ich liebe es, sie zu spielen. So ist Gott auch einmalig. Aber er ist nicht heilig, weil er MIR heilig ist. Seine Heiligkeit ist nicht davon abhängig, wie vielen Menschen er wichtig ist. Sondern Gott ist heilig, egal wie viele oder wie wenig Menschen ihn lieben. Denn Gott ist auch souverän. Er ist das Maß aller Dinge.

 

In dem Wort „heilig“ steckt in der deutschen Sprache der Begriff „heil“. Gott ist heil, vollkommen, harmonisch, der Urgrund des Guten. Bei Gott ist nichts Unheiliges, und von ihm geht kein Unheil aus. Im Gegenteil: Er ist heil und will heil machen. Von daher ist es auch logisch, dass der Heilige ein Feind aller Sünde, alles Widergöttlichen ist. Denn die Sünde, das Misstrauen gegen die guten Absichten Gottes, das Unheilige zielt auf das Verderben und die Zerstörung der Menschen sowie der Schöpfung. Was soll der Heilige nun machen, wenn die Menschen sich selbst zerstören und dabei auch noch die Heiligkeit Gottes mit Füßen treten? Er kann das doch nicht ignorieren, er muss sich ja auch treu bleiben. Deswegen ist der heilige Gott der gerechte Richter. Über seine Boten, seine Propheten kündigt der Konsequenzen an. Aber im selben Augenblick ist der Heilige nicht nur Richter, sondern auch der heilige Retter, der Heiland, der uns heil machen will. „Ich bin der Herr, und außer mir gibt es keinen Retter“. So steht es in Jesaja 43,11! Weil Gott das Gute für uns will und das Leben erhalten und fördern will, darum gibt er uns seine guten Lebensordnungen, seine Lebensangebote. Denn er ist heilig, und wir sollen es auch sein.

 

Und da setzt die berechtigte Kritik und Klage Gottes an. Die Worte bei Jesaja haben nicht nur vor 2700 Jahren ihre Gültigkeit gehabt, sondern sie gelten heute genauso. Er beklagt die unfassbare Missachtung der Gottheit Gottes. Die bildhafte Rede von den Kindern, die ihren Eltern unendlichen Stress machen, können wir sehr gut nachvollziehen. Denn das gab es schon immer, dass Kinder gegen die Eltern aufbegehren und ungehorsam und aufmüpfig sind. Schon der alte Sokrates (469 – 399 v.Chr.) hat folgendes gesagt: „Wir leben in einem lügenhaften, sehr heruntergekommenen Zeitalter. Die heutige Jugend zeigt kaum noch Respekt vor den Eltern. Sie ist von Grund auf verdorben, voller Ungeduld und ohne jede Selbstbeherrschung. Über die Erfahrungen und Weisheiten der Älteren spotten sie. Das sind sehr bedenkliche Zeiten, und man muss vermuten, dass sich darin Verderben und Untergang des Menschengeschlechts drohend ankündigen.“

 

Das kennen wir, dass man sich über die „Jugend von heute“ echauffiert. Aber hier klagt Gott darüber, dass er Kinder großgezogen und gefördert und reichlich versorgt hat, und die sind von ihm abgefallen, sind ihm untreu geworden. Sie haben mit ihm gebrochen, sie sind abtrünnig geworden. Gott ist den Menschen gleichgültig geworden, sie ignorieren ihn. Missratene und verdorbene Kinder, eine Band von Übeltätern, durch und durch verdorben. So sagt es der Bibeltext.

 

Das sind schwere Geschütze, die hier aufgefahren werden. Wenn irdisch-menschliche Eltern sich so über ihre Kinder beklagen, dann vermuten wir, dass die Eltern bestimmt auch eine Mitschuld an dem Dilemma haben. Aber Gott? Wo hat er sich schuldig gemacht? Und wenn Kinder mit solchen Vorwürfen und Anschuldigungen konfrontiert würden, dann weisen sie das wahrscheinlich von sich oder sie reagieren schulterzuckend gleichgültig und sagen: „Na und?“. So machen es ja auch die Menschen, wenn Gott ihnen ihr Verhalten mit all den Konsequenzen vor Augen führt. Sie weigern sich auch, einen Zusammenhang zwischen der Missachtung Gottes und ihrem Zustand zu sehen. Dabei stellt Gott diese Verbindung immer wieder her. Aus der Gottlosigkeit erwachsen Boshaftigkeit und Schlechtigkeit und Verderben.

 

Im Vers 3 wird Jesaja meines Erachtens witzig, humorvoll, vielleicht auch ironisch. Er sagt, dass Ochs und Esel besser wissen, wem sie gehören und wem sie zu gehorchen haben als wir Menschen. Ochs und Esel wissen auch, wer sie füttert und versorgt. Die Menschen aber kapieren offenbar überhaupt nicht, wer sich um sie kümmert. Die Menschen haben Gott vergessen. Und sie haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben. Das erschüttert Gott. Und es erschüttert ihn auch, wenn er die Folgen von der Vergesslichkeit und der Ignoranz der Menschen mit ansieht.

 

In der Bibel wird darauf hingewiesen, dass es bei den Folgen und Auswirkungen der Sünde zwei Aspekte gibt. Der eine Gesichtspunkt ist am einfachsten mit einem Bild zu erklären, das der Prophet Jeremia verwendet. Er sagt, dass die Menschen sich selbst das Wasser abgraben, wenn sie sich von Gott abwenden. „Mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich, die Quelle frischen Wassers, hat es verlassen und stattdessen gräbt es sich Löcher für Regenwasser, die auch noch rissig sind und das Wasser nicht halten“ (Jeremia 2,13). Hier steckt ein bittere Logik drin. Wenn jemand in der Wüste wohnt und die Wasserquelle verlässt, dann ist die schreckliche Konsequenz, dass derjenige verdurstet. Denn die Alternative zum Quellwasser erweist sich als trügerisch und nutzlos.

 

So viel Leid in dieser Welt ist eine tragische Folge der Ignoranz Gott gegenüber. Kriege und Kämpfe, Lug und Betrug, Mord und Totschlag, Streit und Hass und so weiter und so fort. Die Zeit reicht nicht, und außerdem ist es sehr ermüdend und anstrengend und frustrierend, alles hier aufzuzählen.

 

Dann gibt es aber auch noch die andere Komponente. Aussagen in unserem Predigttext und an anderen Stellen der Heiligen Schrift hören sich so an, als ob Gott die Menschen bewusst und aktiv dafür bestraft, dass sie ihm den Rücken zugekehrt haben: „Wohin soll man euch noch schlagen, die ihr doch weiter so widerspenstig seid? Das ganze Haupt ist krank, das ganze Herz ist matt. Vom Scheitel bis zur Sohle ist kein heiler Fleck mehr an euch, nur Beulen, blutige Striemen und frische Wunden.“ Das klingt nach wütender Folter, nach jähzorniger Schläge. Hat Gott das seinem Volk angetan? Verprügelt er die Menschen, wenn sie ihm nicht gehorchen? Eine ganz heikle Frage, die ich mit einem eindeutigen Ja und Nein zugleich beantworte. Ich fange bei dem „Nein“ an. Nein, Gott schlägt nicht blindwütig auf die Menschen ein, er lässt seinem Unmut nicht jähzornig freien Lauf. Er hat nicht unkontrolliert drauf. Dieses Bild vom wutschnaubenden Despoten entspricht in keiner Weise Gott! Vielmehr leidet er an dem Leid, das die Menschen sich selbst zufügen. Und er leidet mit, wenn er pädagogische Erziehungsmaßnahmen ergreifen muss, bei denen er immer die sehnsüchtige Hoffnung hat, dass die Menschen erkennen und lernen, was sie sich einbrocken, wenn sie Gott missachten. Von daher ist die Frage auch mit „Ja“ zu beantworten. Aber die Sanktionen Gottes sind gar nicht so sehr auf sein aktives Handeln zurückzuführen, sondern er lässt uns die Auswirkungen unserer Schuld und Sünde spüren und erfahren. Wir kennen das vielleicht aus der Kindererziehung. Wie oft hat die Mutter zu ihrem Kind gesagt, dass die Herdplatte heiß ist und dass es saumäßig weh tut, wenn das Kind drauffasst. Mutti sagt es, Mutti schimpft, Mutti gibt dem Kind einen Klapps auf die Finger. Aber das Kind hört nicht. Bis die Mutti hört, dass das Kind vor Schmerz schreit und heult.

 

Eine ganz und gar spannende Frage ist in diesen Wochen und Monaten, wie die Corona Pandemie unter diesem Gesichtspunkt einzuordnen und zu betrachten ist. Ich meine nicht, dass Gott im Himmel sich überlegt hat, wie er uns Menschen peinigen und piesacken kann. Und dann hat er Covid 19 erfunden und nach Wuhan geschickt. Sondern in unserer Welt und Schöpfung, die sehr deutlich auf Distanz zu Gott gegangen ist, gibt es viele Viren und andere Bedrohungen, die uns gefährlich werden. Und aktuell haben wir es mit einer weltweiten Plage zu tun. Was machen wir? Wir fragen, wo das herkommt und wer daran schuld ist. Das kann ja ganz interessant sein, wenn wir das wüssten. Und wenn wir nun ganz genau wüssten, dass die Chinesen in Wuhan schuld sind: was dann? Wie wollen wir sie zur Rechenschaft ziehen? Oder wenn wir wüssten, dass das Virus aus einem Forschungslabor entwichen ist: was dann? Wollen wir das Labor in die Luft sprengen? Die Frage nach dem Woher bringt uns nicht weiter. Im Gegenteil, sie verhindert die viel wichtigere Frage, wie wir mit der Pandemie, mit dieser Plage umgehen und was sie uns lehrt. Sie lehrt uns, dass wir nach Gott fragen, dass wir ihn um Erbarmen anrufen. Aber nicht Erbarmen in der Weise, dass er uns von dem Elend befreit, damit wir dann wieder ohne ihn ein „normales“ Leben führen können. Sondern das Erbarmen Gottes muss uns dahin bringen, dass wir uns zu dem Heiligen Israels und zu seinem Heiland Jesus Christus bekehren. Das Erbarmen Gottes brauchen wir in unserem Land, damit wir wieder zu Gott finden und erkennen und verstehen, dass er unser Vater ist. Wenn das ganze Haupt krank ist und wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie das Leben heil werden kann, dann sollten wir Gott bitten, dass er unser Denken auf ihn lenkt und von ihm geleitet wird. Und wenn das ganze Herz matt ist, dann sollten wir Gott bitten, dass er uns wieder neu belebt und stärkt und ermutigt und auf ihn ausrichtet.

 

Das ist die Botschaft des Jesaja: Gott, der Herr, schafft Heil. Darum sollen wir uns an ihn wenden und mit ihm unterwegs sein.

 

AMEN