Begegnung wagen

 

 

 

Vorbemerkung:

Diese Predigt habe ich für den Gottesdienst in der Friedenshofgemeinde in Kassel vorbereitet. Im Zuge eines umfangreichen "Kanzeltausches" haben wir mit einem kleinen Team den Gottesdiest dort gestaltet. In vier Gemeinde im Umfeld von Kassel haben Gottesdienstteams in je anderen Gemeinden einen Gottesdienst zum gleichen Thema und Predigten über den gleichen Text gehalten.

 

Liebe Gemeinde!

 

Begegnung wagen. So haben wir das Thema für diesen Gottesdienst genannt, so steht es auch als Motto über der Predigt. Begegnung wagen. Das klingt ja so, als sei eine Begegnung ein Wagnis, zu dem ich mich überwinden muss. Begegnung wagen, weil sie etwas Gefährliches ist, weil ich diffuse oder konkrete Ängste und Bedenken habe. Naja, es gibt schon Begegnungen, denen ich nur zu gern aus dem Weg gehen möchte. Mit unliebsamen und unsympathische Menschen mag ich nicht so ohne weiteres zusammen sein. Menschen, die mich runterziehen, die mir nicht guttun, die ihre Abneigung mir gegenüber zum Ausdruck bringen. Da ist jede Begegnung ein Wagnis.

 

Bei anderen Personen ist das was ganz anderes. Da freue ich mich, dass wir uns sehen, zusammen sind. Das tut einfach nur gut, das baut mich auf. Solche Treffen muss ich nicht wagen, zu denen muss ich mich nicht überwinden. Ob Begegnungen für uns ein Wagnis sind oder ob wir ihnen ganz entspannt entgegensehen, das hängt natürlich auch davon ab, was für eine Persönlichkeit wir sind. Von Natur aus eher ängstlich, introvertiert und zurückgezogen? Oder forsch und extrovertiert und mutig. Aber es hat eben auch damit zu tun, wem ich begegne.

 

Ich lese uns den Text aus Johannes 1 vor, in dem es um etliche Begegnungen geht.
Johannes 1,35-49

 

Hier begegnen zwei junge Männer Jesus. Dieses Treffen wurde vorbereitet und arrangiert von Johannes dem Täufer. Der wusste nämlich, dass Gott sich in außergewöhnlicher Weise auf den Weg gemacht hat, um den Menschen in Israel zu begegnen. Und die Menschen in Israel zu der Zeit Jahren haben sich nach einer Gottesbegegnung gesehnt. Sie haben das Eingreifen Gottes erhofft und erwartet, sie haben sich so sehr gewünscht, dass Gott sich ihnen offenbart, ihnen hilft, sie spüren lässt, der er ihnen nahe ist, sich ihnen zuwendet. Und dann ist der Täufer aufgetreten und hat gesagt: Leute, es dauert nicht mehr lange, er kommt! Aber ihr müsst euch schon bewusst sein, dass ihr dem lebendigen Gott begegnen werdet. Darauf müsst ihr euch vorbereiten. Bedenkt, dass der heilige Gott zu uns fehlerhaften Menschen kommt. Stellt euch entsprechend darauf ein und besserte euch. Gott ist heilig und er nimmt unsere Fehlerhaftigkeit und unsere Schuld und Sünde ernst. Er nimmt es uns übel, wenn wir ihm unser Misstrauen aussprechen und wenn wir eigensinnig ohne ihn das Leben gestalten. Und wenn wir Menschen Gott vergessen und ignorieren oder ihn zu einem degradieren, der da oben irgendwie auf uns aufpasst, dann nennt die Bibel das Sünde. Gott ist nicht der Nothelfer, der uns aus der Patsche helfen soll.

 

Wir müssen uns also schon bewusst machen, wer wir sind, wenn wir mit Gott in Beziehung treten wollen. Und wir müssen wissen, wer der Gott ist, dem wir gegenübertreten wollen. Vielleicht spüren wir das Dilemma, das nun in dieser Begegnungskiste zwischen Gott und uns Menschen liegt. Wenn der vollkommene Heilige uns unvollkommenen und sündigen Menschen begegnet, dann sieht das gelinde gesagt sehr kritisch für uns aus. Wir haben vor ihm keine Chance. Aber auf der anderen Seite brauchen wir die Gemeinschaft mit ihm, wir brauchen die Ewigkeit und das vollkommene Heil in unserer vergänglichen und zerbrechlichen und unvollkommenen Welt. Das ist sowas wie die Quadratur des Kreises. Wie soll das klappen?

 

Wenn wir die lebensnotwendige, aber an sich unmögliche Begegnung mit Gott wagen wollen, dann geht das nur über Jesus. Und auf den weist Johannes der Täufer die Menschen und insbesondere seine Gefolgsleute hin. Er spricht von Jesus als dem Lamm Gottes, das die Sünde der ganzen Welt trägt. Also Johannes der Täufer benennt einerseits ganz unverblümt und ehrlich die Sünde der Welt. Er beschönigt nichts. Aber der Täufer weiß auch andererseits, dass Jesus das Problem der menschlichen Sünde aus der Welt schaffen wird. Der wird mit meiner Sünde fertig. Der hat die Autorität und die Vollmacht Gottes, Sünde so zu vergeben, dass wirklich vergeben ist. Er bringt es fertig, dass wir mit Gott im Reinen sein können. Das meint die Formulierung, dass Jesus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt trägt. Er ist der Sündenbock, auf den alle Schuld gepackt wird. Jesus ist zum Opferlamm schlechthin geworden. Er bezahlt mit seinem Leben für unser aller Schuld und Sünde. Und darum macht er es möglich, dass wir die so dringend nötige Begegnung mit Gott wagen können.

 

Die zwei Gefolgsleute von Johannes dem Täufer also sehen nun diesen Jesus. Und sie sind getrieben von Sehnsucht, Hoffnung und von Neugier. Kann es wirklich sein, dass Gott uns mit diesem Jesus wieder wohlgesonnen und barmherzig begegnet? Kann es sein, dass er uns wieder an das erinnert und uns dessen vergewissert, dass wir Gott wichtig sind? Kann es sein, dass er uns wieder mit Gott in Beziehung und Gemeinschaft bringt, die wir so schmerzlich vermissen?

 

Und dann laufen die zwei Jesus einfach hinterher. Das ist meines Erachtens ziemlich unbeholfen und fast ein bisschen tollpatschig. Sie wissen offensichtlich nicht so richtig, wie sie Jesus auf sich aufmerksam machen sollen. Bis sich Jesus auf einmal rumdreht und sie anspricht: Was sucht ihr? Das sind die ersten Worte, die der Evangelist Johannes als wörtliche Rede Jesu in seinem Lebensbericht über Jesus wiedergibt! Was sucht ihr? Das ist die Frage, die Jesus den beiden damals gestellt hat - und die er uns heute stellt. Wenn wir mit ihm zu tun haben wollen, dann fragt er uns, was wir bei ihm eigentlich suchen, was wir von ihm wollen. Die zwei Männer damals geben eine geniale, eine absolut vorbildliche und hilfreiche Antwort: Sie sagen: wir suchen dich, Jesus. Wir wollen dich besser kennenlernen. Deswegen formulieren sie ihre Frage so: Meister, wo wohnst du? Nein, die zwei wollen nicht das Quartier von Jesus inspizieren. Sie wollen nicht die Einrichtung bewundern. Sondern sie bitten Jesus, in seine Privatsphäre vordringen zu dürfen. Sie wollen nicht theoretisch distanziert und akademisch abgehoben über Jesus und seine Mission philosophieren. Sondern sie wollen die persönliche, private, direkte Begegnung mit ihm wagen. Dafür lädt Jesus sie ein und darauf lässt Jesus sich ein.

 

Ihr lieben Leute, das war damals das einzig Richtige, und das ist auch heute noch das Beste, was wir machen können. Mit Jesus persönlich und privat in Kontakt zu treten, das geht. Wir lesen die vier Berichte über sein Leben und sein Reden und Handeln, wir lernen ihn auf diese Weise sehr gut kennen. Wir reden mit ihm und rechnen damit, dass er uns antwortet. Schließlich lernen wir ihn immer besser kennen. Aber Vorsicht: wir werden die Erfahrung machen, dass er uns auch kennt. Wir sind für ihn keine unbeschriebenen Blätter. Das bekommen Petrus und Nathanael zu spüren, aber auf eine sehr wertschätzende und verschmitzte Art und Weise. Den Simon, den Bruder vom Andreas, kennt er und sieht in ihm ein Potenzial und Fähigkeiten, die ihm vorher noch keiner zugebilligt hat. Und den skeptischen Nathanael schätzt Jesus. Denn der Nathanael denkt logisch richtig, wenn er sagt, dass der Retter für Israel unmöglich aus dem kleinen Kaff Nazareth in Galiläa kommen kann. So ein Heimatort ist absolut unter der Würde für den Messias. Aber der Nathanael ist trotzdem eine aufrichtige und ehrliche Haut, weil er sich allen Bedenken zum Trotz auf die Begegnung mit Jesus einlässt!

 

An der Stelle mach ich mal eine Predigtpause. Und wir singen zwischendrin ein Lied: Das Lied sagt, dass Gott heilig ist, es sagt aber auch, dass wir uns ihm aus Gnade nähern dürfen.

 

LIED: Heilig, heilig, heilig ist der Herr

 

Begegnung mit dem heiligen Gott wagen? Ja, weil er uns mit seinem Sohn gnädig und barmherzig begegnet. Damit es aber zur Begegnung mit Gott kommt, nimmt Gott Menschen in seinen Dienst, die anderen Menschen begegnen, und diese mit Jesus in Berührung bringen. Dabei spielt es in unserem Text eine wegweisende Rolle, dass sich die erwähnten Männer gegenseitig auf Jesus aufmerksam machen. Andreas geht zusammen mit seinem Kumpel, dessen Name im Text nicht erwähnt wird, zu Jesus. Ich bin übrigens der festen Überzeugung, dass der unbenannte Jünger kein anderer als Johannes, der Apostel und Verfasser des Johannesevangeliums ist. Und dann gesellt sich der Simon dazu, schließlich ruft Jesus den Philippus in die Truppe und der kann den Nathanael erfolgreich einladen. Mir ist diese kleine Gruppe, die im Lauf der Zeit immer größer wird, ein Hinweis auf die Gemeinde. Hier waren ja schon sehr unterschiedliche Charaktere beieinander, später kamen noch ganz andere Typen hinein in die Jüngerschar. Aber sie haben miteinander mit Jesus und über Jesus gesprochen. Sie haben sich gegenseitig auf Jesus aufmerksam gemacht und sich erzählt, was sie an Jesus fasziniert und was sie mit ihm erlebt haben. Sie haben sich ermutigt, bei Jesus zu bleiben und mit ihm unterwegs zu sein. Und wenn einer voller Skepsis und Zweifel gewesen ist, dann haben die anderen gesagt: „Komm und sieh es!“

 

Ihr habt vielleicht schon gemerkt, dass das die Chance und die Aufgabe von Gemeinde und Gemeinschaft ist. Es ist so dringend nötig, dass wir in der Gemeinde miteinander Begegnungen wagen, damit wir uns gegenseitig immer und immer auf Jesus aufmerksam machen. Unnachahmlich und unübertroffen hat Dietrich Bonhoeffer die Wichtigkeit von der personalen Gemeinschaft unter Christen zum Ausdruck gebracht: „Der Christ braucht den Christen, der ihm Gottes Wort sagt, er braucht ihn immer wieder, wenn er ungewiss und verzagt wird; denn aus sich selbst kann er sich nicht helfen, ohne sich um die Wahrheit zu betrügen. Er braucht den Bruder (oder die Schwester) als Trägerin und Verkündiger des göttlichen Heilswortes. Er braucht den anderen Christen allein um Jesu willen. Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders. (…) Das Ziel aller Gemeinschaft der Christen ist deutlich: sie begegnen einander als Bringer der Heilsbotschaft.“

 

Ihr Lieben, so schön es ja ist, im Wohnzimmer zuhause vorm Fernseher oder im Internet Gottesdienste zu erleben. Aber das kann die persönliche Begegnung mit anderen Christen nicht ersetzen. Dabei geht es nicht nur darum, zusammen und präsent im Gottesdienst beieinander zu sitzen. Es geht vor allem darum, dass wir in Kleingruppen, in Bibelstunden oder Hauskreisen oder anderen Zusammenkünften einander begegnen als Segensträger und Übermittler der Heilsbotschaft. Wir erinnern uns daran, dass die zwei Jünger damals Jesus in seinem Wohnzimmer besser kennengelernt haben. Auch bei den ersten Gemeinden, von denen das Neue Testament berichtet, haben die meisten Treffen bei den Leuten zuhause stattgefunden. Wir sollten meines Erachtens auch wieder Begegnungen bei uns zuhause wagen. Nun meine ich nicht, dass wir jetzt leichtfertig und übermütig um der geistlichen Ziele willen sämtliche Corona-Regeln und notwendigen Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen. Ich meine aber, dass wir besonnen und achtsam Begegnungen wagen. Und ich möchte unter diesem Gesichtspunkt sehr dafür plädieren, dass wir es einander ermöglichen, dass wir uns angstfrei und gefahrlos begegnen können. Halten wir das an der Stelle doch mal ganz pragmatisch fest: Von einer ungeimpften, aber negativ getesteten Person geht in aller Regel keine gesundheitliche Gefährdung für Geimpfte aus. Der Ungeimpfte ist für mich und meine Gesundheit sehr wahrscheinlich kein Problem. Aber auch ein geimpfter Mensch kann für den Ungeimpften zur krankmachenden Virenschleuder werden. Und das ist nicht nur für den nicht Geimpften ein Problem, sondern auch für den, der wahrscheinlich unbewusst und unwissentlich den anderen ansteckt.

 

Wir brauchen die Begegnungen, wir brauchen auch den Blick über den Tellerrand. Deswegen finde ich diese Gottesdienste im Bereich des Friedenshofwerkes so klasse, bei denen wir auch etwas von dem erfahren und erleben, was in anderen Gemeinden passiert.

 

Ich wünsche uns, dass wir besonnen und achtsam, aber auch mutig und entschlossen Begegnungen untereinander wagen, damit wir uns gegenseitig zum Segen werden.

 

Ich will noch einen letzten Gedanken kurz entfalten. Damit es bei den Menschen in unserer Umgebung überhaupt zur Gottesbegegnung kommt, müssen wir, die Kinder Gottes, ihnen begegnen. Nach meinem Eindruck und meiner Erfahrung gibt es kaum andere Wege als der persönliche Kontakt, auf dem Menschen mit Gott in Berührung kommen können. Gerade in den letzten Monaten ist mir das so deutlich geworden. Viele sind vereinsamt, viele sind verzweifelt, viele sind aber auch hilfesuchend und fragend. Geht auf sie zu. Wagt in Gottes Namen wieder Begegnungen.

 

Denn die traditionellen und viele Jahrzehnte üblichen Anknüpfungspunkte an den Glauben sind verloren gegangen. Und die herkömmlichen Informationsquellen über das Christsein sind versiegt. Aber die Menschen um uns herum sehnen sich nach Gottesbegegnung, sie erhoffen und erwarten das Wirken Gottes, sie wollen spüren, dass er ihnen hilft, ihnen nahe ist und sich ihnen zuwendet. Sie sehnen sich nach Trost und Ermutigung und nach Hoffnung. Wie wäre es, wenn wir die Begegnung mit ihnen wagen und nicht nur gezielt für sie beten, sondern ihnen gezielt und bewusst Gutes tun. Wenn wir sie betend und mit wachen Sinnen in den Blick nehmen, dann finden sich vielleicht auch Gelegenheiten, ihnen zu sagen, was der Grund unsere Hoffnung ist. Dann können wir ihnen bei einer Tasse Tee oder Kaffee, beim Abendessen oder einem Plausch über den Gartenzaun erzählen, was unserem Leben Sinn und Ziel und Inhalt gibt.

 

Begegnung wagen. Die Begegnung mit dem heiligen Gott, weil Jesus uns gnädig und barmherzig Zutritt gewährt. Begegnung wagen. Wieder neu und bewusst in der Gemeinschaft mit anderen Kindern Gottes, damit wir uns gegenseitig ermutigen und auf Jesus hinweisen. Begegnung wagen mit den Menschen, die sich nach Gott sehnen, aber noch nicht wissen, dass sie über Jesus eingeladen sind, in die offenen Arme Gottes zu laufen.

 

Wir wollen sie einladen und ihnen sagen: Kommt, atmet auf.

 

LIED: Kommt, atmet auf, ihr sollt leben