Jesaja 49,1-6

 

Liebe Gemeinde!

Ich beginne meine Predigt mit einem modernen Gleichnis, das auf den amerikanischen Theologen Theodore Wedel zurückgeht.

„An einer gefährlichen Küste machten vor Zeiten ein paar Leute eine Rettungsstation für Schiffbrüchige auf. Zu dieser Rettungsstation gehörte nur ein einziges Boot. Mit diesem wagte sich die kleine, mutige Mannschaft immer wieder, bei Tag und bei Nacht, auf das Meer hinaus, um Schiffbrüchige zu retten. Es dauerte nicht lange, bis dieser kleine Stützpunkt bald überall bekannt war. Viele der Geretteten und auch andere Leute aus der Umgebung waren gern bereit, die armselige Station mit Geld zu unterstützen. Die Zahl der Gönner wuchs und wuchs. Mit dem Geld, das sie spendeten, wurde die Rettungsstation großzügig ausgebaut, immer schöner und komfortabler. Sie wurde allmählich zu einem beliebten Aufenthaltsort und diente schließlich den Männern als eine Art Klubhaus.

Immer mehr Mannschaftsmitglieder weigerten sich nun, auszufahren und Schiffbrüchige zu retten. Sie wollten den Rettungsdienst überhaupt einstellen, weil er unangenehm und dem normalen Klubbetrieb hinderlich sei.

Ein paar Mutige, die den Standpunkt vertraten, dass Lebensrettung ihre vorrangige Aufgabe sei, trennten sich von ihnen. Nicht weit davon entfernt begannen sie mit geringen Mitteln eine neue Rettungsstation aufzubauen. Aber auch sie erfuhr nach einiger Zeit dasselbe Schicksal: Ihr guter Ruf verbreitete sich schnell, es gab neue Gönner, und es entstand ein neues Klubhaus. So kam es dann schließlich zur Gründung einer dritten Rettungsstation. Doch auch hier wiederholte sich die gleiche Geschichte ...

Wer heute diese Küste besucht, findet längs der Uferstraße eine beträchtliche Reihe exklusiver Klubs. Immer noch wird die Küste vielen Schiffen zum Verhängnis; nur - die meisten Schiffbrüchigen ertrinken.“

Diese Geschichte holt mich immer wieder ein. Sie spricht mich an und macht mich betroffen, lässt mich aber auch immer etwas hilflos zurück. Denn ich denke, dass es die Geschichte der Kirche, die Geschichte der Gemeinde Jesu in Europa, in Deutschland ist. Die Geschichte der Evangelikalen, der Pietisten, die Geschichte derer, die mal losgezogen sind, Menschen mit dem Evangelium zu erreichen. Wir haben angefangen mit kleinen Aufbrüchen, als kleine Gemeinden. Wir haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit dem Evangelium erreicht. Weil es nötig war, haben wir Gemeindehäuser gebaut oder gekauft. Und wir haben es für notwendig erachtet, uns eine Eigenständigkeit als Gemeinden zu bewahren oder zu erarbeiten. Und nicht nur wir als LKG oder EFG hier in HeLi, sondern auch viele andere Gemeinden haben eigene „Seenotrettungsstationen“ gegründet. Ich weiß von vielen berechtigten Initiativen, die neue Gemeinden gegründet haben. Diese Neugründungen waren gar nicht mal nur dadurch motiviert, dass sich bestehende Gemeinden nur noch um sich selbst gedreht haben. Sondern das Bestreben, auf vielerlei Weise Menschen für Jesus zu gewinnen. Und doch muss man immer wieder beobachten, dass sich auch solche Gemeinden je und je mehr um sich selbst kümmern als um den Missionsauftrag Jesu.

Wir müssen es uns ehrlicherweise eingestehen, dass sich auch bei uns die Fragestellung unserer Gemeindearbeit verändert hat. Früher haben wir überlegt: „Wie können wir dazu beitragen, dass Menschen das Evangelium von Jesus Christus hören?“ Heute, und insbesondere auch im Zusammenhang mit Corona und immer kleiner werdenden Kreisen, fragen wir: „Wie können wir das Gemeindeleben so angenehm gestalten, dass uns die Gemeindeglieder nicht weglaufen? Oder dass die jüngeren dazu kommen, damit wir noch eine Zukunft haben?“ Und damit sind wir mitten in dem Thema der Geschichte von den Seenotrettungsstationen.

So, und jetzt lese ich den Predigttext aus Jesaja 49,1-6 (nach der Hoffnung für alle):

1 Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln und ihr Völker in der Ferne! Schon vor meiner Geburt hat der HERR mich in seinen Dienst gerufen. Als ich noch im Mutterleib war, hat er meinen Namen genannt. 2 Er hat mir eine Botschaft aufgetragen, die durchdringt wie ein scharfes Schwert. Schützend hält er seine Hand über mir. Er hat mich zu einem spitzen Pfeil gemacht und mich griffbereit in seinen Köcher gesteckt. 3 Er hat zu mir gesagt: »Israel, du bist mein Diener. An dir will ich meine Herrlichkeit zeigen.« 4 Ich aber dachte: »Vergeblich habe ich mich abgemüht, für nichts und wieder nichts meine Kraft vergeudet. Dennoch weiß ich, dass der HERR für mein Recht sorgt, von ihm, meinem Gott, erhalte ich meinen Lohn.« 5 Und nun spricht der HERR zu mir. Er hat mich von Geburt an zum Dienst für sich bestimmt. Die Nachkommen von Jakob soll ich sammeln und zu ihm zurückbringen. Gott selbst hat mir diese ehrenvolle Aufgabe anvertraut, er gibt mir auch die Kraft dazu. 6 Er spricht zu mir: »Du sollst nicht nur die zwölf Stämme Israels wieder zu einem Volk vereinigen und die Überlebenden zurückbringen. Dafür allein habe ich dich nicht in meinen Dienst genommen, das wäre zu wenig. Nein – ich habe dich zum Licht für alle Völker gemacht, damit du der ganzen Welt die Rettung bringst, die von mir kommt!«

Ich gebe zu, dass es nicht gerade einfach ist, den Text nach dem ersten Lesen oder Hören zu verstehen. Da ist sicher erst mal von Israel die Rede. Dann aber auch von einem Gottesknecht, der nicht nur Jakob und Israel wieder zu Gott bringen soll, sondern der das Licht der Heiden ist. Aus unserer Sicht sehen wir hier Jesus aufleuchten. Teile dieses Textes werden aber auch mit der neutestamentlichen Gemeinde und ihrem Auftrag in Verbindung gebracht. Und es ist tatsächlich so, dass hier eins ins andere übergeht und wir die verschiedenen Stränge im Blick behalten müssen.

Beginnen wir damit, dass dieser Text zuerst das Volk Israel als Adressaten im Blick hat. Die Zeit, als diese Worte von Gott sein Volk erreicht haben, war nicht gerade eine Glanz- und Blütezeit. Israel hatte Gott den Rücken zugekehrt. Sie haben sich nur noch um sich selbst gedreht, haben sich nicht mehr an Gott, sondern an ihren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen orientiert. Und infolgedessen wurden sie von den Babyloniern abhängig, schließlich erobert und in die Fremde deportiert. Sie waren nichts mehr. Ihre Feinde haben sehr hämisch über das Volk Gottes gelästert. „Jahrhunderte habt ihr davon gesprochen, dass ihr das auserwählte Volk seid, wart stolz auf eure Gebote und Gottesdienste. Und jetzt? Was ist jetzt? Ihr seid Flüchtlinge, Vertriebene. Schwach, klein, ohnmächtig. So ist es auch mit eurem Gott.“ Aber jetzt kommt Gottes Perspektive zur Sprache. „Israel, du bist mein Diener. An dir will ich meine Herrlichkeit zeigen.“ In unseren Ohren klingt das nicht gerade schmeichelhaft, wenn Gott sagt: „Du bist mein Diener!“ Wir hören vielleicht zuerst, dass die Diener wie Leibeigene für diesen Gott schuften müssen. Aber der hebräische Ausdruck „aebaed“ meint nicht den ausgebeuteten und unterdrückten Sklaven, sondern den gewürdigten Menschen, der arbeiten und einer sinnvollen und wertvollen Tätigkeit nachgehen darf. Die ganze Wertschätzung kommt ja auch im ersten Vers zum Ausdruck. Israel erkennt: Schon vor meiner Geburt hat der HERR mich in seinen Dienst gerufen. Als ich noch im Mutterleib war, hat er meinen Namen genannt. Er hat mir eine Botschaft aufgetragen, die durchdringt wie ein scharfes Schwert. Schützend hält er seine Hand über mir. Gott spricht Israel zu, dass er sein Volk nicht vergessen hat. „Du hast mir den Rücken zugekehrt. Aber ich, dein Gott, habe dir nicht den Rücken zugedreht. Du hast viel dummes Zeug gemacht. Aber ich habe dich nicht ausgemustert. Ich hab dich nicht entlassen. An dir will ich meine Herrlichkeit zeigen.“

Was bedeutet das für uns? Wir sind ja nicht das Volk Israel. Aber nach 1. Petrus 2,9 ist die neutestamentliche Gemeinde das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums. Und darum sind wir in die Zusage dieses alttestamentlichen Textes eingeflochten. Uns gilt der Zuspruch Gottes: Mein Diener bist du. Landeskirchliche Gemeinschaft und Evangelisch Freikirchliche Gemeinde in Hessisch Lichtenau: mein Diener bist du. Du bist bei deinem Gott nicht vergessen. Gott hat seine Hand auf dich gelegt. Und er hat dich dazu berufen, an dir und durch dich die göttliche Herrlichkeit sichtbar zu machen. So entnehmen wir das auch dem Bestimmungstext aus Epheser 1: Wir sind sein Eigentum, er hat uns zu Erben eingesetzt, er hat uns zu Christus gerufen, damit wir mit unserem Leben Gottes Herrlichkeit für alle sichtbar machen.

Damit kommen wir zu einem weiteren großen Gedanken und Thema dieses Textes. Es geht um den weltumspannenden Auftrag. Im letzten Vers steht es so: Du sollst nicht nur die zwölf Stämme Israels wieder zu einem Volk vereinigen und die Überlebenden zurückbringen. Dafür allein habe ich dich nicht in meinen Dienst genommen, das wäre zu wenig. Nein – ich habe dich zum Licht für alle Völker gemacht, damit du der ganzen Welt die Rettung bringst, die von mir kommt!

Auch diese Sätze hören wir zunächst mit dem Bewusstsein derer, die damals die ersten Empfänger gewesen sind. Damals hatte jedes Volk seine speziellen Gottheiten und seine besonderen religiösen Riten. Mit der Gottesoffenbarung im Alten Testament bringt Jahwe aber Unordnung in diese Vorstellung. Er hat den Anspruch, dass er allein Gott ist. Immer wieder beharrt Gott darauf, dass er, Jahwe, allein Gott ist; es gibt keinen außer ihm. Denn er ist der eine Schöpfergott. Und daran halten auch wir fest, dass der Gott, der sich uns in der Bibel offenbart, nicht einer von vielen ist. Er reiht sich nicht ein in eine Reihe von Gottheiten. Dieser Schöpfergott hat sich ein Volk berufen und mit einem Missionsauftrag betraut. Den höre ich zunächst als Anweisung an sein Volk damals. Du sollst dich nicht nur um dich selbst kümmern und drehen. Du sollst nicht nur die zwölf Stämme Israels wieder zu einem Volk vereinigen und die Überlebenden zurückbringen. Dafür allein habe ich dich nicht in meinen Dienst genommen, das wäre zu wenig. Das wäre zu wenig. Gott hat Größeres mit seinem Volk vor. Aber das Volk damals hat genug mit sich selbst zu tun gehabt. Sie haben gehört, dass Gott sie berufen hat, ihm zu dienen und seine Botschaft zu verkündigen. Aber im Vers 4 klagen sie: Vergeblich habe ich mich abgemüht, für nichts und wieder nichts meine Kraft vergeudet. Es ist alles so anstrengend und mühsam. Und es kommt ja doch nichts dabei raus. Wie soll ich da noch über den Tellerrand blicken und den Heiden etwas von Gott sagen? Wie soll ich der ganzen Welt die Rettung bringen, die Rettung, die von Gott kommt? Das alttestamentliche Volk ist daran gescheitert. Sie haben sich - wenn überhaupt - nur um ihre eigene Frömmigkeit gekümmert.

Wir haben vorhin schon mal festgestellt, dass diese Worte nicht nur dem alttestamentlichen Volk Gottes gegolten haben, sondern auch der neutestamentlichen Gemeinde Jesu. Wir sind von Jesus beauftragt, den Menschen, den Heiden, den Nationen, die Rettung zu bringen, die von Gott kommt. „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben. Darum geht zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Matthäus 28,18-19). Denn auch für die neutestamentliche Gemeinde ist es zu wenig, wenn wir uns nur um uns selbst kümmern. Auch wenn wir gleichsam darunter stöhnen und mit den innergemeindlichen und unseren persönlichen Angelegenheiten schon satt und genug zu tun und zu kämpfen haben. „Ich arbeite vergeblich und verzehre meine Kraft umsonst und unnütz“. Sind wir zu Seenotrettungsstationen geworden, die genug damit zu tun hat, den eigenen Betrieb und Laden am Laufen zu halten? Das aber ist zu wenig.

Wir sehen ja nach wie vor den Auftrag, Menschen mit der Liebe Gottes vertraut zu machen, ihnen die Rettung zu verkündigen, die Jesus ihnen anbietet. Aber da kommen wir doch erst recht an unsere Grenzen. Wie sollen wir das denn schaffen? Wir haben doch so oft den Eindruck, dass wir vergeblich arbeiten, dass wir umsonst unsere Kraft verzehren und dass alles nutzlos ist. Ja, wir fühlen uns mit dem Auftrag, Licht für alle Völker zu sein, restlos überfordert.

Ja, wir sind überfordert, wenn wir den Auftrag losgelöst vom Auftraggeber erfüllen wollen. Denn Jesus Christus ist der „aebaed Jahwe“, der Knecht Gottes. Insgesamt lesen wir vier Abschnitte aus dem Prophetenbuch des Jesaja als sogenannte Gottesknechtslieder. Unser Text ist das zweite davon, das berühmteste findet sich in Jesaja 52,13 bis 53,12. Der Messias Jesus von Nazareth ist der Heiland und der Retter der Welt. Er ist das Licht, nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt. Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Jeder, der mir folgt, wird nicht in der Dunkelheit herumirren. Nein, er wird das Licht des Lebens haben!“ Und wir sind in seiner Nachfolge insofern Licht für die Menschen, als dass wir uns von ihm anstrahlen und erleuchten lassen. Dass er uns mehr und mehr durchleuchtet und durchdringt, das soll dann dazu führen, dass er mehr und mehr durch uns leuchtet. Durch uns will er sich verherrlichen.

Es ist auch für uns zu wenig, wenn wir uns nur im Licht seiner Liebe sonnen. Wir sind in jeder Lage berufen, als Gemeinden und als einzelne Kinder Gottes, seine Liebe und Herrlichkeit zu reflektieren und unser Licht leuchten zu lassen vor den Menschen.

Ich komme nochmal auf die Eingangsgeschichte zurück. Nicht alle von uns sind mehr dazu in der Verfassung, in die Rettungsboote zu steigen und Schiffbrüchige aus dem Wasser zu ziehen. Aber unsere Mitgliedschaft in der Seenotrettungsstation, sprich in der Gemeinde, hat das eine Ziel, dass möglichst viele Menschen gerettet werden. Darum ist es auch gut, dass wir als EFG und LKG unsere Kräfte immer mehr bündeln. Nicht, damit wir unseren Clubbetrieb als Gemeinden aufrecht erhalten können, sondern damit Menschen in Hessisch Lichtenau zum Glauben kommen. Dazu segne und befähige uns Gott.

AMEN