Jahreslosung 2021:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist

 

 

 

Liebe Freunde!

 

Ich kann mich an keinen Jahreswechsel jemals erinnern, bei dem Bangen und Hoffen so dicht beieinander lagen. Das Bangen angesichts der Frage, wie die Pandemie weiter grassiert und unser Leben nachhaltig beeinträchtigen wird. Und das Hoffen, dass mit dem Impfstoff und einer Herdenimmunisierung das Covid 19 Virus eingedämmt und kontrolliert werden kann. Vor dem Hintergrund werden ganz viele gute und bewusst formulierte Wünsche ausgesprochen. Die Jahreslosung für das neue Jahr passt aber nicht so gut in die Reihe der guten Wünsche. Sie vermittelt nicht die Hoffnung, dass alles gut wird, macht nicht Mut, dass wir das schon irgendwie schaffen werden und malt uns auch keine bessere Zukunft vor Augen. Sondern das Jahresmotto für 2021 spricht von Barmherzigkeit. Damit zeigt uns Jesus, worauf wir angewiesen sind und was wir im Umgang miteinander praktizieren sollen: Barmherzigkeit. Wir haben es nicht mit einem frommen Wunsch zu tun, sondern mit einer steilen Anspruch und zugleich einem starken Zuspruch. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

 

In meiner Betrachtung möchte ich gern mit dem Zuspruch beginnen, mit dem Versprechen, dass Gott barmherzig ist und uns drei Aspekte aufzeigen, was die Barmherzigkeit Gottes ist (natürlich ist das nur ein kleiner Ausschnitt!).

 

1.      Gottes Barmherzigkeit ist seine Beziehungstreue

 

In Lukas 1 staunt der alte Priester Zacharias über die Barmherzigkeit Gottes. Denn in der Geburt seines Sohnes Johannes, der später der Täufer und der Vorbote für den Messias wird, sieht er die große Beziehungstreue Gott zu uns Menschen. Zacharias sagt, dass Gott uns seine Barmherzigkeit zeigt und an seinen heiligen Bund denkt, den er mit seinem Volk geschlossen hat. Zacharias weiß, was viele Menschen heute leider nicht mehr wissen: Gott hat sich immer wieder an seine Menschen gebunden. Er hat uns immer wieder versprochen, dass er uns die Treue hält. Nach der Sintflut hat er das Zeichen des Bundes in die Wolken gesetzt, den Regenbogen, und uns zugesagt, dass er die Schöpfung und die Menschen bewahren will. Aber die Menschen haben vielfach Gott und seine Treue ignoriert. Dann hat er mit Abraham einen Bund gemacht und zugesagt, dass er die ganze Menschheit durch Abraham und seine Nachkommen segnen will. Aber die Menschen haben den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs abgelehnt. Dann hat er mit dem Volk Israel einen Bund gemacht und erneut versprochen, dass er treu zu seinem Volk und seinen Menschen steht. Aber selbst Israel ist seinem Gott nicht treu geblieben. Und jedes Mal ist es die barmherzige Bundestreue Gottes, die uns Menschen nicht aufgibt. Es ist darum auch kein Zufall, dass die göttlichen Eigenschaften der Barmherzigkeit, der Treue und der Geduld oft in einem Atemzug genannt werden. Und mit dem Rückblick auf 2020 stimmt der Satz aus Klagelieder 3,22: „Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende.“

 

Mit dem Kommen Jesu auf diese Erde bekommt die Barmherzigkeit Gottes eine neue Dimension, die ich etwas provokant so formuliere:

 

2.      Gottes Barmherzigkeit ist ungerecht

 

Hiermit beziehe ich mich auf Jesus selbst, der in Johannes 3,17 zu dem hochgelehrten Juden Nikodemus gesagt hat: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Damit stellt Jesus das Rechtsempfinden von vielen Menschen auf den Kopf. Wenn Gott gerecht ist, dann muss er doch die Guten belohnen und die Bösen bestrafen. Die Anständigen kommen gut weg und die anderen bekommen das, was sie verdient haben. Jesus aber hat so ganz anders gelebt. Er ist gerade zu den Unanständigen gegangen, hat sich mit den Versagern und den Halunken abgegeben. Denen hat er nicht die Leviten gelesen, denen hat er nicht das gerechte Gericht Gottes um die Ohren gehauen. Sondern denen ist er mit Barmherzigkeit begegnet. Und hier sollten wir Barmherzigkeit nicht mit Mitleid verwechseln. Denn Mitleid klingt meines Erachtens immer so ein bisschen von oben nach unten. Barmherzigkeit aber passiert auf Augenhöhe. Das ist nicht bloß ein Sehen des anderen, sondern ein Mitfühlen, sich Hineindenken und Hineinfühlen in den anderen. Und das hat zum Glück nichts damit zu tun, dass alle das bekommen, was sie verdient haben. Sondern das ist die Barmherzigkeit Gottes, von der wir alle leben! „Wir alle“, das muss betont werden. Denn

 

3.      Gottes Barmherzigkeit geht auf alle Menschen aktiv zu

 

Das zeigt uns auf wunderbare Weise das Gleichnis von dem Vater mit den beiden Söhnen (gerne nachzulesen im Lukas 15,11-32). Die Geschichte ist ja dafür bekannt, dass der Vater dem verlotterten und vergammelten Sohn entgegenläuft, der wieder nach Hause zurückkommt. Er hat alles auf dem Kopf gehauen, alles verprasst, er hat jedes Recht auf ein Wohlwollen des Vaters verspielt. Der Vater aber kommt ihm entgegen, nicht weil es gerecht ist, sondern weil ihm die Beziehungstreue zu seinem Sohn über alles ging. Diese Erbarmen Gottes wird in den alten Sprachen des Orients immer mit Begriffen ausgedrückt, die ein ganz intensives Mitgefühl beschrieben. Da kann zum Beispiel das gleiche hebräische Wort sowohl Erbarmen und Barmherzigkeit als auch Mutterschoß bedeuten. Der katholische Theologe Thomas Renz hat dazu gesagt: „Die Gefühle, die eine Mutter empfindet, die ihr Neugeborenes zum ersten Mal in den Händen hält, (…) kommt der eigentlichen Bedeutung des Begriffs 'Barmherzigkeit' im Sinne von 'zärtlichem Erbarmen' am nächsten. So lässt sich auch das Verhältnis des (…) himmlischen Vaters zu seinen Kindern (…) am besten beschreiben.“

 

Das Problem des anständigen älteren Sohnes in der Geschichte war, dass dieser das Erbarmen des Vaters angeblich nicht nötig hatte. Davon war er überzeugt. Weil er die Barmherzigkeit des Vaters nicht kannte, konnte der dessen Beziehungstreue nicht begreifen. Deswegen beschwert er sich lautstark über die Ungerechtigkeit das barmherzigen Vaters. Er rümpft die Nase über seinen missratenen Bruder. Er ist anständig, aber unbarmherzig. Aber auch zu ihm kommt der Vater raus. „Da ging der Vater hinaus und bat ihn hineinzukommen ins Haus“ (Lukas 15,28). Warmherzig, barmherzig geht der Vater auch auf den selbstgerechten Sohn zu.

 

Meine lieben Freunde, in aller gebotener Kürze habe ich versucht, ein paar Aspekte der Barmherzigkeit Gottes aufzuzeigen. Die wird uns nun als Maßstab für unsere gelebte Barmherzigkeit vorgestellt. Allerdings bin ich nicht so ganz sicher, ob das kleine Verbindungswort zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Satzes mit „wie“ richtig übersetzt ist. Das „wie“ beinhaltet, dass ich so barmherzig sein soll, wie Gott es ist. Aber das überfordert mich. Das schaffe ich nie. Hilfreicher und auch sinnvoller ist es, das griechische Wort „kathoos“ mit „weil“ zu übersetzen. Dann verstehen wir es nicht vergleichend, sondern begründend. WEIL Gott barmherzig, deswegen sollt auch ihr barmherzig sein. Denn nur weil wir alle vom Erbarmen Gottes leben, deswegen können wir auch Erbarmen leben.

 

Wie unsere gelebte Barmherzigkeit aussehen kann, das will ich nun auch noch in drei praktischen Schritten aufzeigen.

 

 

 

 

 

1.      Lasst uns bei den Herzen der Menschen sein

 

Die Einschränkungen und Begrenzungen durch die Pandemie werden uns noch Wochen und Monate beschäftigen und belasten. Eines der großen Probleme wird auf die Dauer der Zeit die Vereinsamung sein. Wir werden, wenn überhaupt, nur eingeschränkt Gottesdienste gemeinsam erleben, auf andere Gemeinschaftserlebnisse werden wir noch ziemlich lange verzichten müssen. Dabei sind wir Menschen aber Beziehungswesen und wir sind auf unsere Beziehungstreue angewiesen. Darum ist es ein ganz wichtiger Akt der Barmherzigkeit, dass wir Kontakte pflegen, halten und gestalten. Es ist wichtig, dass wir Anteil nehmen und Anteil geben. Das können wir alle nur jeweils mit unseren Möglichkeiten und im Rahmen dessen, was wir zu leisten vermögen. Aber das kann nur gelingen, wenn wir alle aktiv werden. Es hat meines Erachtens kaum jemand das Recht, lediglich auf einen Anruf oder einen Gruß von den anderen zu warten. Sondern alle sind aufgerufen, aktiv zu werden und Initiative zu ergreifen. Wer sich passiv mit einer Bedienermentalität in die Schmollecke zurückzieht, hat die Jahreslosung nicht richtig verstanden. Dabei bin ich mir der Begrenztheit durchaus bewusst. Aber jeder und jede hat unterschiedliche und vielfältige Möglichkeiten, Barmherzigkeit zu praktizieren. Und so wünsche ich uns, dass 2021 ein Jahr der Barmherzigkeit wird.

 

2.      Wird 2021 wirklich ein Jahr der Barmherzigkeit?

 

Nun, wenn es nicht ein Jahr der Barmherzigkeit wird, was wäre denn die schreckliche Alternative? Was ist denn das Gegenteil von Barmherzigkeit? In der Vorbereitung habe ich Begriffe gesucht, die das Gegenteil von „barmherzig“ ausdrücken. Eingefallen sind mir Wörter wie „brutal, unbarmherzig, grausam, herzlos, hart, barbarisch …“. Aber über all diesen Wörtern gibt es eines, das am deutlichsten das Gegenteil von Barmherzigkeit ausdrückt: SELBSTGERECHTIGKEIT.

 

Das, meine lieben Freunde, ist eine meiner größten Sorgen, wenn ich an das vor uns liegende Jahr denke. Schon jetzt tun sich viele hervor, die alles besser wissen und die alles natürlich viel besser gemacht hätten und die auch ganz genau wissen, was die alles falsch gemacht haben, die in dieser Coronakrise in politischer Verantwortung stehen. Oh ja, es sind Fehler gemacht worden! Und sollten wir es vergessen haben, so will ich uns und alle anderen daran erinnern, dass es Menschen sind, die im Robert-Koch-Institut ihren Dienst tun, die in den Gesundheitsämtern und den Kreisverwaltungen, den Landesregierungen und den unterschiedlichen Ministerien arbeiten. Menschen, die allesamt keine Erfahrung mit einer Pandemie haben. Menschen mit Mängeln. Aber die unbarmherzigen Besserwisser bedrohen unser Land mit einem sehr gefährlichen Virus, dem der Selbstgerechtigkeit und der Überheblichkeit. Sicher braucht es kritische Begleitung derer, die das Sagen haben. Aber gerade uns Christen stehen Gebet und Fürbitte besser zu Gesicht als unhaltbare Verschwörungstheorien und lieblose Hetze. Ich hoffe, dass 2021 nicht das Jahr der Abrechnung wird, sondern das Jahr der Barmherzigkeit.

 

3.      Der Textzusammenhang gibt uns Barmherzigkeitsnachhilfe

 

Die Jahreslosung aus Lukas 6,36 steht an einer Schnittstelle geradezu in der Mitte der so genannten Feldpredigt (Lk 6,20-49). Direkt nach der Aufforderung zur Barmherzigkeit erklärt Jesus, wie wir mit den Menschen in unserem alltäglichen Umfeld umgehen sollen. Und da steht als erstes: Wenn ihr barmherzig seid, wie euer Vater barmherzig ist, dann richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Wir sollen uns nicht anmaßen, mit unserer kleinen persönlichen Erkenntnis andere beurteilen zu können. Die nächste Aufforderung geht einen Schritt weiter: Es steht uns nicht zu, andere zu verurteilen. Wer sind wir, dass wir meinen, dazu das Recht zu haben? Und die dritte Aufforderung schreibt uns die Vergebung ins Stammbuch. So sieht Barmherzigkeit aus. Aber auch der Umgang mit den Menschen, die uns Böses wollen, die echt gemein sind, die unsere Feinde sind, soll von der Barmherzigkeit geprägt sein. Im Vers 35 steht darum: liebt eure Feinde. Feindesliebe heißt nicht, dass mir mein Feind sympathisch ist und dass ich ihn ganz furchtbar gernhabe. Liebe heißt hier: den anderen segnen, für ihn beten. Jesus sagt nicht: Schluck alles runter, was man dir antut. Sondern bring das alles vor Gott. Das ist gelebte Barmherzigkeit. Dann sagt Jesus: Tut Gutes. Wie berechtigt diese Aufforderung ist erkennen wir daran, dass wir unseren Widersachern gegenüber lieber die kalte Schulter zeigen und ihnen aus dem Weg gehen. Von unserer Natur her würden wir lieber dem anderen noch mal eins auswischen, ihn von oben herab betrachten und dann selbstgerecht und eiskalt ignorieren. Das aber wäre nicht gelebte Barmherzigkeit.

 

Und mittlerweile merke ich, wie schwer das mit der Barmherzigkeit ist, wenn sie bedeutet, aktiv auf Menschen zuzugehen. Auch die dritte Aufforderung im Vers 35 hat es in sich: Leiht, wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. Dann kannst du das, was du dem anderen gegeben hast, gleich abschreiben, das ist auf Nimmer-Wiedersehen verloren. - Jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, wo sich alles in mir sträubt. Ich will zwar barmherzig sein, aber ich mag mich nicht ausnutzen und auch nicht ausbeuten lassen. Wird das gelebte Erbarmen nicht zur Dauerenttäuschung und zur Überforderung? Dass wir enttäuscht werden, wenn wir wie Gott barmherzig sein wollen, das ist tatsächlich nicht ausgeschlossen. So ergeht es Gott täglich tausendfach, millionenfach. Aber er gibt nicht auf. Und ob uns die praktizierte Barmherzigkeit überfordert? Auch das kann uns passieren. Aber lasst es uns lernen, von Gottes Barmherzigkeit zu leben, er ist überreich an Erbarmen. Und wir dürfen immer wieder neu lernen, barmherzig zu werden. Wir müssen und können es nicht sofort perfekt sein. Sondern wir sollen und dürfen üben. Das erste Wort kann man auch mit „werden“ übersetzt. „Werdet barmherzig, weil euer Vater auch barmherzig ist.“ Damit haben wir genug zu tun.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!

 

AMEN