Ein Tag im Leben von Jesus –
Jesus und die Menschen

 

Liebe Gemeinde,

ich will euch heute von Theresa und ihrer Tochter Alicia erzählen. Wenn es um ihr Kind geht, dann kann Theresa sehr energisch werden. Und das hat eine Frau in einem Waschsalon zu spüren bekommen. Denn deren Kinder haben sich über Alicia lustig gemacht. Alicia hat keine Haare. Sie hat Arthritis in den Knien. In den Hüften knirscht es und sie hört schlecht. Sie hat die körperliche Kraft einer Achtzigjährigen, aber sie ist erst zehn Jahre alt. Alicia leidet an Progerie, einer sehr seltenen genetisch bedingten Krankheit, die eine vorzeitige Vergreisung verursacht.

„Mama, schau dir dieses Monster an“, so haben die Kinder gespottet. Theresa kontert auf diese Frechheit und sagt: „Sie ist keine Außerirdische und auch kein Monster. Sie ist genau wie ihr und ich.“

Alicia ist eine lebhafte Drittklässlerin, sie spielt mit ihren Barbiepuppen und neckt ihren jüngeren Bruder. Ihre Mutter hat sich an Blicke und Frage gewöhnt. Der ständigen Neugierde begegnet sie mit Geduld und sie akzeptiert sachliche Erkundigungen. Aber bei gefühllosem Spott reagiert sie allergisch. Als die Mutter der spottenden Kinder sagt: „Ich sehe >ES<“, wird Theresa sehr energisch und fährt die Frau an: „Mein Kind ist kein >ES<!“

Wer kann es der Mutter von Alicia übel nehmen, dass sie der anderen Frau fast eine scheuert? Ihre Mutterliebe macht sie fähig, ihr Kind ungeachtet aller Unvollkommenheiten zu lieben. Theresa sieht die Gebrechen und die Zerbrechlichkeit ihrer Alicia wie die anderen auch. Aber sie sieht ihre Tochter mit den Augen der Liebe an. Sie sieht ihr Kind, sie sieht Alicias Würde.

So ist das bei Gott auch. Er sieht uns mit den Augen eines Vaters und mit der Fürsorge einer Mutter. Er sieht unsere Mängel und Fehler, unsere wunden Punkte und unser Verlorensein. Aber er sieht auch die Würde, die wir Menschen haben. Mit solchen Augen sieht Jesus die Menschen an. Er kennt nicht nur unseren Wert, sondern er kennt unsere Würde. In seinen Augen sind wir kostbar.

In dem Zusammenhang ist mir der Artikel 1 unseres Grundgesetzes in den Sinn gekommen. Im Absatz 1 steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Ich glaube, dass es sehr tiefsinnig ist, dass hier nicht vom Wert, sondern von der Würde des Menschen die Rede ist. Immanuel Kant hat eine interessante Unterscheidung zwischen Wert und Würde gemacht. Er sagt, dass Dinge wertvoll sind, wenn wir sie brauchen können. Ein Schuh ist zum Beispiel wertvoll, wenn er passt und man mit ihm gut laufen kann. Der Schuh hat dann einen Wert. Wenn der Schuh kaputt ist, hat er keinen Wert mehr. Bei Menschen ist das anders: Der Mensch hat immer einen Wert. Auch wenn er krank ist. Auch wenn er nicht arbeiten kann. Wenn etwas immer einen Wert hat, sagt man: Es hat eine Würde. Jeder Mensch ist deshalb wertvoll, weil er ein Mensch ist. Darum sagt Kant: Alles hat einen Wert, der Mensch aber hat eine Würde.

Von der biblischen Perspektive aus betrachtet kann ich dem großen Philosophen nur zustimmen. Was die Philosophie aber nicht beantwortet ist die Frage, wer oder was den Menschen die Würde gibt. Denn Kant sagt ja lediglich, dass wir Menschen uns selbst, weil wir eben Menschen sind, die Würde zubilligen. Aus dem Wort Gottes weiß ich, dass die Menschen ihre Würde daher haben, dass Gott sie ihnen gegeben hat. Denn der Mensch ist Gottes Ebenbild, sein Gegenüber. Im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen hat Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen. In 1. Mose 1 wird das so formuliert: „Dann sprach Gott: »Nun wollen wir Menschen machen, ein Abbild von uns, das uns ähnlich ist! Sie sollen Macht haben über die Fische im Meer, über die Vögel in der Luft, über das Vieh und alle Tiere auf der Erde und über alles, was auf dem Boden kriecht.« So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie und schuf sie als Mann und als Frau.“ Das gibt uns die Würde. So sieht Jesus uns Menschen an. Er sieht uns als solche, die Gott in die unmittelbare Beziehung zu ihm hin geschaffen hat, die ihm wesensähnlich sind. Und deshalb hat Jesus ein Herz für uns, ihm geht es um uns. Für uns Menschen ist er Mensch geworden, um uns wieder zu Gott zu bringen, damit wir Menschen die Ewigkeit bei Gott verbringen können. Im 1. Johannesbrief steht, dass Jesus Christus unsere Sünden, ja die Sünden der ganzen Welt auf sich genommen hat; er hat sie gesühnt. So wichtig sind ihm die Menschen, so wertvoll, weil sie die Würde der Ebenbildlichkeit Gottes tragen.

Ihr Lieben, diese Haltung Jesu uns Menschen gegenüber ist die Basis für das Verhalten und das Handeln Jesu den Menschen gegenüber. Diese Sicht hat ihn befähigt, an dem besagten Tag bei allem Stress und dem Gefühlschaos nicht durchzudrehen oder aus der Haut zu fahren. Die Menschen waren und sind schon sehr fordernd, bedrängend, nervend. Und Jesus war, wie wir in der letzten Predigt gemerkt haben, in einer emotionalen Ausnahmesituation.

Bevor wir uns nun anschauen, wie Jesus sich nun an diesem einen besagten Tag den Menschen gegenüber verhalten hat, möchte ich euch sehr herzlich bitten, euer Appellohr mal zuzuhalten. Denn die erste Botschaft lautet nicht, dass wir es sofort 1:1 so machen sollen wie Jesus, dass wir auf Knopfdruck so vollkommen und barmherzig sein sollen wie er. Sondern zuerst sollen wir anbetend staunen, wie groß seine Liebe zu uns Menschen ist. In den drei Berichten des Matthäus, Markus und Lukas über das Leben von Jesus steht, dass Jesus ein Herz für die Menschen hatte:

„Als er aus dem Boot stieg, erwartete ihn bereits ein große Menschenmenge. Er hatte Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken“ (Matthäus 14,14).

„Er hatte Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe ohne Hirten“ (Markus 6,34).

„Da wandte er sich ihnen zu, erzählte ihnen vom Reich Gottes und heilte die Kranken unter ihnen“ (Lukas 9,11).

Nur gut, dass nicht ich in der Situation damals gewesen bin, sondern Jesus. Wenn ich damals am Ufer des Sees Genezareth in den Schuhen von Jesus gesteckt hätte, dann würden die Aussagen anderes klingen. „Als Frank aus dem Boot stieg, erwarteten ihn bereits eine paar Menschen (denn mir wäre keine große Menschenmenge gefolgt!). Frank murmelte vor sich hin, dass man auch nirgends mal seine Ruhe hat und dass die Leute einem keinen freien Tag gönnen. Frank sah, dass sie wie Schafe ohne Hirten waren. Deshalb sagte er zu ihnen, so sollten aufhören, von ihm Futter, Versorgung und Betreuung zu erwarten.“ Nur gut, dass ich nicht für die Menschen verantwortlich bin. Ich wäre nicht dazu aufgelegt und auch nicht dazu in der Lage, sie an so einem Tag zu lehren und ihnen zu helfen. Ich hätte nicht mal den Wunsch verspürt, mit ihnen zusammen zu sein.

Nun hatte Jesus ja bekanntermaßen auch das Bedürfnis, mit seinen Jüngern mal allein zu sein. Er musste die Todesnachricht von Johannes dem Täufer verdauen, er musste verarbeiten, dass Herodes ihn auch umbringen lassen will. Er muss gleichzeitig mit der Begeisterung seiner Jünger umgehen. Aber die Leute haben ihm keine Ruhe gelassen, sie drängen sich ihm regelrecht auf. Sie bedrängen ihn. Gibt Jesus nun einfach nur nach, weil er sich denkt, dass Widerstand zwecklos ist? Nein, Jesus hatte einen triftigen Grund, warum er den Tag dann doch mit den Menschen zugebracht hat. „Er hatte Mitleid mit ihnen!“ Das ist der Grund. Er hatte Mitleid mit ihnen. Das griechische Wort, das an dieser Stelle für Mitleid haben benutzt wird, heißt „splanchnizomai“. Das wird euch nicht viel sagen, es sei denn, ihr seid medizinisch ausgebildet, dann kennt ihr die „Splanchnologie“, die Lehre von den Eingeweiden. Wenn Matthäus schreibt, dass Jesus mit den Menschen Mitleid hatte, dann sagt er nicht, dass sie Jesus irgendwie ein bisschen leid taten. Der Ausdruck ist viel anschaulicher und tiefgehender. Jesus hat ihre Bedürfnisse und Verletzungen in seinen Eingeweiden gespürt. Er fühlt das Hinken des Gelähmten. Er fühlt die Kopfschmerzen des Bekümmerten. Er fühlt die Einsamkeit des Aussätzigen. Er fühlt die Beklommenheit des Betrügers.

Und das galt nicht nur damals, sondern das gilt auch noch heute. Jesus fühlt mit. Damals hat er viele von den Menschen geheilt. Natürlich fragen wir, warum das anscheinend nur damals der Fall gewesen ist und warum nicht heute. Naja, zum einen hilft Jesus heute auch, es gibt nach wie vor übernatürliche Heilungen. Zum zweiten schenkt er uns viele medizinische Möglichkeiten, die uns sehr helfen. Und zum dritten sind Heilungen und Wunder tatsächlich nur unterstützende Maßnahmen, die ein Hinweis sind auf die Vollmacht und Größe von Jesus. Jesus hat nie behauptet, dass er gekommen ist, um alle Menschen von allen gesundheitlichen Gebrechen zu heilen. Sondern er ist gekommen, um die Menschen zu Gott zu führen. Wunder und Heilungen sind lediglich Zeichen, die uns zeigen sollen, dass wir Menschen eine Würde haben, die durch unsere Sünde allerdings massiv beeinträchtigt worden ist. Und um uns die Würde der Gotteskindschaft wieder zu geben, ist Jesus Mensch geworden. Dabei sind das Heil, die Vergebung, die Versöhnung, die geklärte Beziehung zu Gott, die Gabe des ewigen Lebens, die Himmelsbürgerschaft, das Recht, Kind Gottes sein zu dürfen, das oberste Ziel, das Jesus allen Menschen zueignen will. Denn weil alle Menschen für Gott wichtig sind, deswegen will Gott auch, dass alle Menschen durch seinen Sohn Jesus gerettet werden. Und wenn wir in 1. Timotheus 2,4 lesen, dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, dann betonen wir das ALLE ausdrücklich. Denn Jesus ist für alle gestorben.

An jenem besagten Tag hat Jesus das exemplarisch an allen gezeigt, die er geheilt hat. Matthäus und Markus schreiben, dass er an jenem Tag die Kranken geheilt hat, die da gewesen sind. Nicht ein paar wenige, nicht die braven unter den Kranken. Nicht diejenigen, die es verdient haben. Nicht nur die Frommen oder die, die es ganz besonders nötig gehabt haben. Sondern alle, die da waren. Bei den vielen gab es bestimmt einige, die eine Heilung nicht verdient haben. Vielleicht war unter denen ein notorischer Dieb. Jesus heilt ihm sein verstauchtes Knie. Und es gibt keine Garantie, dass der nicht wieder klaut und dann ganz schnell wegrennen kann. Vielleicht löst Jesus einer Frau die Zunge, so dass sie wieder reden kann. Aber eines Tages wird sie zedern und lügen und fluchen und vielleicht laut schreien, dass Jesus getötet werden soll. Vielleicht ist unter den Geheilten ein scheinfrommer Heuchler, der Gottes Barmherzigkeit nur dann in Anspruch nimmt, wenn es sein frommes Ego stärkt. Aber selbst wird er hartherzig und selbstgerecht bleiben.

Jesus hat den Menschen geholfen, weil sie ihm in ihrem Leid leidgetan haben. Ob sie ihm für die Hilfe und Heilung danken oder nicht, ob sie ihm aus Dankbarkeit nachfolgen und ihm anbetend dienen oder nicht, das ist für Jesus nicht handlungsweisend.

So ist Jesus an dem Tag mit den Menschen umgegangen, denn er hatte Mitleid mit ihnen allen. Und er wusste um ihren Wert, weil sie die Würde der Gottebenbildlichkeit haben.

Aber das Mitleid Jesu hat sich eben nicht nur darin gezeigt, dass er die Menschen geheilt hat. Sondern er hat sich das Leid, die Zerbrechlichkeit des Menschseins zu eigen gemacht, bis dahin, dass er sich selbst als Heilsmittel eingesetzt hat und für unsere Schuld gestorben ist. Er ist für alle gestorben. Und auch hier betonen wir das ALLE ausdrücklich und schreiben es ganz groß.

Ein Tag im Leben von Jesus, der uns zeigt, wie kostbar, wie wertvoll wir Menschen ihm sind.

Zum Schluss noch zwei kurze Gedanken der Vollständigkeit halber. Zum einen hat sich Jesus durchaus von den Menschen abgegrenzt. Auch er musste schlafen und essen, auch er konnte nicht 24 Stunden, 7 Tage die Woche für die Menschen da sein. Und wenn die Menschen ihn von seinem Lebensplan und Lebensziel abbringen wollten, dann hat er sich ausdrücklich distanziert. Darüber werde ich in der übernächsten Predigt sprechen.

Zum anderen (Appellohr bitte wieder öffnen!): Der mitleidende, barmherzige Jesus will uns prägen, formen, erfüllen und durchdringen, so dass wir ihm immer ähnlicher werden. Durch den Heiligen Geist will er uns leiten und gestalten, dass wir mehr und mehr die Menschen sehen, wie er sie sieht und handeln, wie er mit ihnen umgeht. Aber das wird nicht gehen, wenn wir uns anstrengen und am Riemen reißen, sondern wenn wir uns ihm hinhalten und von seinem Geist erfüllen lassen.

AMEN