Heimat suchen und finden – bei Menschen und Gott

 

 

 

Vorbemerkung: zum besseren Verständnis ist es hilfreich, wenn ihr den Bibeltext
Ruth 1,1-19, eventuell sogar das ganze Buch (sind nur vier kurze Kapitel) vorher lest.

 

 

 

Liebe Freunde,

 

Die Geschichte beginnt mit einem schreienden Widerspruch: eine Hungersnot im verheißenen Land, dem Land, in dem angeblich Milch und Honig fließt. Eine Hungersnot, eine Wirtschafts- und Existenzkrise für weite Teile der Bevölkerung. Die Ernte war wegen anhaltender Trockenheit ausgeblieben oder viel zu gering ausgefallen. Ungeziefer wie zum Beispiel Heuschrecken haben großen Schaden angerichtet. Die Dramatik und der ganze Gegensatz werden noch verschärft durch den Namen des Ortes, der hier Ausgangspunkt und Ziel ist: Bethlehem. Bethlehem bedeutet „Haus des Brotes“. Eine Hungersnot im Brothaus. Geht das, kann das sein, darf das sein? Hungersnot im verheißenen Land? Wie kann das möglich sein? Diese Frage mussten sich auch schon viele Generationen vorher stellen. Die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob hatten immer wieder mit Hungersnöten und existenzbedrohenden Krisen zu tun. Auch sie mussten jeweils ins Ausland flüchten, damit sie nicht verhungerten, sondern überleben konnten. Jakob und seine große Familie hatten sogar in Ägypten vorübergehend eine neue Heimat gefunden. Auch in unserer Geschichte führt die Hungersnot zur Flucht ins Exil.

 

Mich hat das in dramatischer Weise an die unzähligen Flüchtenden erinnert, die ihre Heimat verlassen. Sie tun das, weil in ihrem Land Bürgerkrieg herrscht, weil Heuschrecken große Teile der Felder kahlgefressen haben, weil klimatische Veränderungen für Missernten sorgen, weil korrupte Regierungen die Hilfslieferungen aus dem Ausland nicht denen zukommen lassen, die sie dringend brauchen. Sofern wir die biblischen Berichte über Flucht aufgrund von Hungersnot (was sind das anders als Wirtschaftsflüchtlinge?) mit frommer Andacht lesen, dürfen wir nicht unberührt davon sein, dass 4,2 Millionen Menschen in Ostafrika wegen der dort herrschenden Dürre auf der Flucht sind.

 

Und noch schrecklicher erscheint es mir, wenn Christen zum Beispiel in Nigeria verschleppt oder getötet werden, weil sie Jesus Christus als den Sohn Gottes verehren und anbeten.

 

Die kleine Familie findet in unserer Erzählung Zuflucht in Moab. Diese Volksgruppe gehört zu den ganz entfernten Verwandten des Volkes Israel. Von der Entstehung dieses Nachbarvolks erzählt die Bibel eine drastische Geschichte. Nach der Zerstörung von Sodom und Gomorra haben die beiden Töchter von Lot, die mit ihrem Vater entronnen waren, ihn erst hinreichend betrunken gemacht und dann verführt, um schwanger zu werden – in der Meinung, die letzten Überlebenden auf Erden zu sein. Die ältere der beiden Töchter nannte ihren Sohn Moab. „Von dem kommen her die Moabiter“ (1. Mose 19,37). Bei diesen ungeliebten Nachbarn handelt es sich um Nachkommen Lots, also um Verwandte. Nachdem das Volk Israel aus der Versklavung in Ägypten ausgewandert war, gab es ziemlichen Stress unter anderem mit den Moabitern. Diese hatten große Angst vor dem Volk Gottes und wollten den Israeliten mit Zauber und Hokuspokus nachhaltig schaden. Aber das ging gründlich schief. Kurze Zeit später haben sich die Männer aus dem Volk Israel auf die hübschen Frauen der Moabiter eingelassen. Abgesehen davon, dass das Ehebruch und Prostitution gewesen ist, hat es auch dazu geführt, dass Teile des Volkes Gottes die heidnischen Götter der Moabiter angebetet haben.

 

Deswegen gab es im Volk Gottes eine Regelung, die folgendes besagt: „Für immer ausgeschlossen aus der Volksgemeinschaft der Juden sind alle, die ammonitische oder moabitische Vorfahren haben, selbst wenn sie seit zehn Generationen in Israel leben.“ Des Weiteren warnt Gott sein Volk davor, mit den Moabitern Freundschaft oder gar Verträge abzuschließen.

 

Trotzdem ziehen Elimelech und seine Frau Noomi mit ihren beiden Söhnen Machlon und Kiljon ins Land der Moabiter. Der Aufenthalt dort war nötig, lebenswichtig, geradezu überlebenswichtig. Dort gab es offenbar genug zu essen, die Familie ist aufgenommen worden und wurde heimisch. Aber das Glück währt leider nicht lange. Elimelech stirbt. Was für ein Leid für die arme Frau! Aber immerhin, beide Söhne haben jeweils ihre Frau fürs Leben gefunden und geheiratet. Das ist für Noomi ein gewisser Trost. Dann aber, etwa 10 Jahre nachdem die Söhne geheiratet hatten, versterben auch diese beiden Männer. Die Ehen blieben offenbar kinderlos. Somit waren drei Witwen übrig. Drei Frauen, die auf sich allein gestellt sind. Drei Frauen, die nur noch sich und ihre Trauer haben. Für Noomi ist die Situation unfassbar schrecklich. Ohne Mann und ohne Söhne, in einem fremden Land, das ist der Tiefpunkt im Leben der nun kinderlosen Flüchtlingswitwe.

 

Viele können den Schmerz mitempfinden. Ich habe Frauen vor Augen, die auch Ehemann und Sohn verloren haben. Und ich weiß, dass der Tod eines geliebten Menschen immer eine Wunde reißt, die so schnell nicht verheilt. Es ist wie eine Amputation. Wie soll es nun weitergehen? Ohne Zukunft und ohne Hoffnung im fremden Land.

 

Wie lange dieser Zustand gedauert hat, verrät der Text nicht. Aber es ist nur zu verständlich, dass Noomi nicht länger als nötig bleiben will. Sobald sich die Versorgungslage in Juda und in Bethlehem verbessert hat, will sie wieder heim. Im biblischen Text heißt es, dass Gott sich seines Volkes wieder angenommen hatte und es in Juda wieder zu essen gab. So machte sie sich mit ihren Schwiegertöchtern auf den Weg Richtung Juda. Die beiden begleiteten ihre Schwiegermutter auf dem Weg in die alte Heimat. Noomi hielt an und sagte zu Ruth und Orpa: „Kehrt um, geht zurück, eine jede in das Haus ihrer Mutter!“. Dann wünscht sie ihren Schwiegertöchtern viel Gutes, Güte und Treue und Liebe von Gott. Das hebräische „chaesed“ ist das zentrale Leitwort in dem ganzen Buch Ruth. Ich werde gleich noch klären und ergründen, worin Noomi die „chaesed“ Gottes gesehen hat.

 

Nachdem sie ihre Schwiegertöchter tränenreich verabschiedet hat, wollen die beiden aber mit ihr zu ihrem Volk zurückkehren. Noomi blieb hartnäckig: »Kehrt zurück in eure Heimat. Ich kann euch keine Söhne mehr schenken. Ich leide mit euch, und ich will, dass ihr Heimat habt. Mich hat Gottes Hand getroffen.« Es tat Noomi weh, ohne Mann, ohne Kind und ohne Schutz einer Familie zu leben. Sie formulierte ihren Schmerz. Sie nahm ihr schweres Schicksal aus Gottes Hand. Sie sagte nicht: Das Gute im Leben kommt von Gott, und das Leid ist brutales Schicksal. Sie sagt allerdings auch nicht, dass Gott sie mit ihrem Leid und Kummer und Schmerz für irgendwas bestraft hat. Nein, sie weiß, dass alles in ihrem Leben mit Gott zu tun hat. Darum bleibt sie bei diesem Gott. Sie vertraut weiterhin auf Gott, auch und obwohl oder vielleicht gerade weil es ihr so schlecht geht. Noomi bliebt Gott treu.

 

Sie wollte aber, dass ihre Schwiegertöchter wieder eine Familie haben können. Noomi konnte ihnen dabei nicht mehr helfen. Orpa lässt sich von den drastischen Worten ihrer Schwiegermutter überzeugen und kehrt unter Tränen nach Hause zurück. Ruth blieb bei Noomi. Noomi versuchte ein drittes Mal, Ruth heimzuschicken: »Geh zu deinem Volk und zu deinem Gott.« Doch Ruth bleibt bei ihr. Dabei macht sie sehr deutlich, dass ihr beharrliches Mitgehen mit Noomi, ihre hartnäckige Liebe und Treue nicht nur eine persönliche Beziehungsgeschichte zu ihrer Schwiegermutter ist. Sie sagt nicht nur: wo du hingehst, will ich auch hingehen, und wo du nächtigst, will auch ich nächtigen. Sondern Ruth fügt sogleich hinzu: dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.

 

Was hat Noomi Ruth wohl über den Gott Israels erzählt? Wie hat die ältere von den beiden Frauen der jüngeren die „chaesed“, die Barmherzigkeit, die Güte, die Liebe, die Treue Gottes lieb gemacht und erklärt und beschrieben, so dass Ruth auch diesem Gott gehören will? Wahrscheinlich hat sie ihr von Abraham erzählt und dem Segen, den Gott durch Abraham und seinen Nachkommen allen Völkern schenken will. Vielleicht hat sie auch von der Geburt Isaaks erzählt, der dem alten Ehepaar im hohen Altern noch geschenkt wurde. Und von Jakob, und dass Gott auch mit einem Gauner, einem Betrüger zurechtkommt und ihn segnen kann. Sicher hat sie von der Befreiung aus Ägypten und dem Passahfest und dem Bundesschluss am Berg Sinai berichtet. Von der Wanderung durch die Wüste und dem Einzug ins verheißene Land. Von dem unsichtbaren Gott, der aber sein Volk und seine Leute durch Höhen und durch Tiefen geführt hat.

 

Aber ich glaube, dass die Ruth am meisten überzeugt hat, dass Noomi diesem Gott auch dann treu geblieben ist, als es ihr schlecht ging. In fröhlichen und guten, schönen und angenehmen Stunden an Gott zu glauben und mit ihm zu leben, das ist keine große Kunst. Aber wenn es hart auf hart kommt, dann bewährt es sich, dass der Herr Gott ist.

 

Ruth hätte viele gute Gründe gehabt, sich nicht an den Gott der Noomi zu heften. Aber sie hat es doch getan und damit Heimat gefunden. Heimat in Bethlehem in Juda. Und sie findet ihr inneres Zuhause bei dem Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Noomis.

 

Einige Zeit später wird Ruths zukünftiger Ehemann Boas ihr zusagen und sie dafür ausdrücklich loben, dass sie Zuflucht unter den Flügeln Gottes gesucht und gefunden hat.

 

Damit bin ich beim letzten spannenden Aspekt der Geschichte von der Moabiterin Ruth, den ich heute beleuchten will. Denn unter einem bestimmten Blickwinkel endet die Geschichte mit einem schreienden Widerspruch. Ruth heiratet tatsächlich einen sehr angesehenen Mann aus Bethlehem. Boas ist ein Verwandter von Noomi, darum ist der Weg zu einer Hochzeit geebnet. Aber da war doch was mit der Richtlinie, dass Leute vom Volk der Moabiter aus der Volksgemeinschaft der Juden ausgeschlossen bleiben sollen! Ruth aber wird vollwertiges Mitglied dieses Volkes! Mehr noch: sie wird die Urgroßmutter vom großen König David. Damit wird David streng genommen ein Mischling, er ist der Urenkel einer Moabiterin! Und wenn wir die Linie weiterziehen, dann hat Jesus auch keinen lupenreinen Stammbaum, sondern da findet sich nicht nur unsere Ruth, sondern eine Generationen zurück taucht eine Frau namens Rahab auf. Rahab ist die Mutter von Boas, sie war in der Stadt Jericho eine Prostituierte, die den Kundschaftern aber beim Ausspionieren der Stadt geholfen hat.

 

Was sagt uns das alles nun noch? Es sagt uns, dass Gott mit seiner „chaesed“, seiner Barmherzigkeit, seiner Großzügigkeit, seiner Güte Unmögliches möglich machen kann. Und dass er sich darüber freut, wenn wir bei ihm unser Zuhause finden, wenn wir unter dem Schatten seiner Flügel Zuflucht haben und ihm treu bleiben, weil treu und ewig ist.

 

AMEN