Jahreslosung 2023:
Du bist ein Gott, der mich sieht.

Ihr Lieben alle!

Mit meiner Predigt über die so genannte Jahreslosung für das neue Jahr 2023 grüße ich euch alle ganz herzlich. Wahrscheinlich gehen wir mit einer gehörigen Portion Unsicherheit in das neue Jahr. Aber bei all dem dürfen wir davon ausgehen, dass Gott uns nicht übersieht. Er geht uns nach, holt uns sogar in der Wüste noch ein und gibt uns Zukunft und Hoffnung.

Ich wünsche uns allen diese Zuversicht und die damit verbundene Gelassenheit.

Herzliche Grüße, Frank

 

Textlesung aus 1. Mose 16,7-14

7 Aber der Engel des HERRN fand sie (Hagar) bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. 8 Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. 9 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. 10 Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. 11 Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört. 12 Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen. 13 Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. 14 Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered.

 

Liebe Neujahrsgemeinde!

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Was für ein ermutigendes und tröstliches Motto für das neue Jahr. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Damit kann man zuversichtlich in die Zukunft gehen.

Aber was für eine vertrackte und tragische und traurige Geschichte steckt hinter diesem Bekenntnis. Die Frau, die das über Gott ausgesagt hat, war mutlos und untröstlich, verzweifelt und komplett am Ende. Hagar, eine junge, schwangere Frau, die vor ihrer Chefin auf der Flucht ist, die vor lauter Verzweiflung sich und das ungeborene Kind in eine lebensbedrohliche Situation gebracht hat. Hagar war die Magd von Sarai, der Frau von Abram. Das alte Ehepaar war kinderlos geblieben. Obwohl sie aber schon so alt gewesen sind, hat Gott ihnen Nachkommen verheißen. Abram war immerhin schon 85 Jahre alt und Sarai war 10 Jahre jünger. Da war es mit dem Kinderkriegen nicht mehr so einfach. Aber Gott hatte es den beiden hoch und heilig versprochen. Trotzdem war Sarai nicht so ganz überzeugt. Sie dachte vielleicht an das Motto „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ Und so hat sie Abram den Vorschlag gemacht, dass ihre ägyptische Magd, die Hagar, als Leihmutter fungieren könnte. Und siehe da, es funktioniert. Nach damaligem Rechtsempfinden war das legitim. Wenn die Leihmutter ihr Kind auf dem Schoß der Ehefrau auf die Welt gebracht hat, dann galt das Neugeborene als das eigene Kind der Ehefrau. Insofern ging das Kalkül von Sarai auf. Aber sie hat die Rechnung ohne die Wirtin gemacht. Denn Hagar wird sich ihrer Rolle und ihrer Bedeutung bewusst. Sie wird eingebildet und überheblich. Sie erkennt ihre Überlegenheit ihrer Herrin gegenüber. Sie sonnt sich in dem Gefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben wichtig zu sein. Sie brüstet sich und wirft Sarai verächtliche oder mitleidige Blicke zu, macht die eine oder andere ironische Bemerkung und schaut immer öfter demonstrativ auf ihren wachsenden Bauch, wenn Sarai sie mit wachsender Wut ansieht. Was in der alten Sarai alles vor sich gegangen sein mag, das will ich hier gar nicht weiter entfalten. Nur so viel: Es herrscht Zickenalarmstufe rot! Und Sarai beschwert sich bei ihrem Mann über die hochnäsige Magd. Aber der Herr des Hauses weigert sich, sich einzumischen. Er nimmt weder seine Frau noch die Sklavin in Schutz. „Sie ist deine Magd, mach doch mit ihr, was du willst“ ist seine kühle Antwort, mit der er sich aus der Affäre ziehen will. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das von Abram klug ist oder ob er einfach nur feige ist. Sarai nimmt die Antwort ihres Mannes als Freibrief für Demütigungen und allerlei Formen von Gewalt gegen ihre Sklavin. Und dann kommt es zum Eklat: Hagar ergreift die Flucht! Die Verzweiflung ist so abgrundtief, dass sie ihr Leben und das des Ungeborenen aufs Spiel setzt.

Das ist die Vorgeschichte, dramatisch, unschön und bitter.

Ich habe das Gefühl und den Eindruck, dass das Schicksal von Hagar in vielerlei Hinsicht ein Sinnbild ist für das Schicksal von ganz vielen Menschen. Ich will ein paar Aspekte unter diesem Blickwinkel betrachten.

1.             Hagar ist doch selbst schuld, oder?

Wie schnell sind manche Menschen dabei, dieser jungen Frau die Schuld für ihre ausweglose Situation zu geben. Sie ist doch hochmütig geworden, sie hat sich doch ungebührlich ihrer Herrin gegenüber verhalten. Hagar war undankbar, sie hat Sarai respektlos behandelt und verachtet. Wahrscheinlich hat sie auch noch darauf gehofft, dass Abram Gefallen an ihr findet, dass er sie noch einmal zu sich ins Bett holt, dass er sie vielleicht zu seiner zweiten Ehefrau macht. Vielleicht hat sie solche oder ähnliche Träume gehabt. Und außerdem war die junge Ägypterin Hals über Kopf abgehauen, sie wurde nicht von ihrer Herrin in die Wüste geschickt hat. Ja, Hagar ist selbst schuld an ihrem Schicksal dort in der Wüste. Aber nicht nur.

Ihr wurde auch Unrecht getan. Sie wurde nur als Mittel zum Zweck angesehen. Sie war eine Sklavin. Sehr wahrscheinlich war sie eine von den großzügigen Gaben, die der Pharao dem Abram geschenkt hat. Abram hatte seinerzeit während einer Hungersnot in Ägypten Zuflucht gesucht und Sarai als seine Schwester ausgegeben. Daraufhin hat der Pharao die bildschöne Sarai in sein Haus geholt und Abram mit Geschenken überhäuft. Als der Betrug rausgekommen ist, hat der ägyptische König Abram mit Sack und Pack aus dem Land gejagt. Und wahrscheinlich war Hagar mit im Gepäck. Was aber macht das mit einer jungen Seele? Welche tragischen Lebensumstände stecken dahinter? Sicher, sie hätte es schlechter treffen können als bei dem frommen und von Gott auserwählten Abram. Aber eine vertrauensvolle und heilsame und gesunde Kultur findet Hagar auch dort nicht. In dem Haus von Abram gibt es auch Ungehorsam und Eigensinn, Streit und Neid, Ausbeutung und Ablehnung. Die junge Ägypterin wurde für einen bestimmten Zweck missbraucht und dann auch noch schikaniert.

Wir sollten nicht so schnell sein mit dem Urteil, dass diejenigen, die in einer ausweglosen Lage sind, die verzweifelt sind, selbst schuld sind an ihrer Situation. Denn das stimmt in den seltensten Fällen. Tröstlich ist aber, dass Gott den Durchblick hat, dass Gott sieht, wie es wirklich ist.

2.             Gott geht ihr nach.

Das größte Wunder in den Gottesbegegnungen ist nicht die Suche des Menschen nach Gott, sondern die Suche Gottes nach den Menschen. Das ist doch das wesentliche Element unseres Glaubens. In einem alten Lied wird das von Christian Gregor so ausgedrückt: „Hättst du dich nicht zuerst an mich gehangen, ich wär von selbst dich wohl nicht suchen gangen; du suchtest mich und nahmst mich voll Erbarmen in deine Armen.“ Jesus erzählt eindrückliche Gleichnisse, die unterstreichen, dass Gott uns sucht und nach uns Ausschau hält. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das der Hirte so lange sucht, bis er es gefunden hat. Das Gleichnis vom verlorenen Groschen, den die Frau sucht und sucht und sucht bis sie ihn endlich wieder in Händen hält. Und auch in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn geht es nicht im Kern darum, dass der junge Mann den Weg zurück nach Hause findet, sondern dass der Vater Tag für Tag wartet, nach ihm Ausschau hält, aus dem Haus rennt, um ihn in die Arme zu schließen, wenn er ihn am Horizont erblickt. So, wie Gott die Hagar sucht und findet, so sucht er auch uns.

Gott geht Hagar nach. Aber er lässt sich Zeit. Ich habe auf einer Landkarte die Orte gesucht, die hier im biblischen Text erwähnt werden. Die Entfernung beträgt mindestens 100 Kilometer. So weit war Hagar schon gelaufen. Zu Fuß war sie unterwegs in der Wüste. Als sie an einer Wasserquelle in der Wüste rastet, ist sie bereits auf halbem Weg nach Ägypten, ihrer alten Heimat. Wie soll es denn nun weitergehen? Zurück? Unmöglich. Die Schikanen werden unerträglich. Und wenn sie das Kind zur Welt gebracht hat, dann droht ihr als entlaufener Sklavin die Todesstrafe. Vorwärts? Weiter nach Ägypten? Genauso unmöglich. Denn welche Aussichten hat eine schwangere, entlaufene Sklavin? Keine. Hoffnungsloser könnte ihre Lage nicht sein. Das ist der Zeitpunkt, an dem Gott eingreift. Er kann geduldig warten, bis der richtige Moment gekommen ist. Denn manchmal müssen Prozesse reifen, manchmal müssen wir bereit für seine Hilfe sein. Manchmal müssen verbohrte Köpfe aufnahmebereit sein und harte Herzen empfänglich werden. Die alten Auswege haben sich als Sackgasse erwiesen, bisherige Versuche aus der Klemme heraus sind fehlgeschlagen.

Da findet der Bote Gottes die Hagar und spricht sie an. Erstaunlich ist, dass Hagar weder in Schockstarre gerät noch eine Panikattacke beim Anblick des Engels bekommt. Dieser Engel muss also ziemlich gewöhnlich ausgesehen haben. Auch bei dieser Beobachtung gibt es die eine oder andere vergleichbare Erfahrung, die manche von uns schon gemacht haben. Gott sendet einen Engel, der so alltäglich daherkommt und gewöhnlich auftritt, dass man ihn erst auf den zweiten Blick als Boten Gottes wahrnimmt.

3.             Gott fragt und ermöglicht Ehrlichkeit.

Hagar ist auch nicht überrascht, dass der Bote sie anspricht und sie mit Namen kennt. Gott kennt auch ihre Herkunft: „Hagar, Sarais Magd!“ Gott kennt ihre Lebensumstände. Er kennt ihre ausweglose Situation und nimmt sie in dieser trostlosen Umgebung wahr. Und obwohl Gott Bescheid weiß, stellt er zwei Fragen. Wenn Gott uns Fragen stellt, dann nicht deshalb, weil er Auskunft braucht, sondern weil wir Auskunft brauchen. Wir sollen uns und ihm Antworten geben. Deswegen fragt Jesus auch so liebend gern. Es gibt dutzende Begebenheiten, in denen Jesus Fragen stellt. „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ „Was sagen die Leute, wer ich bin? Und ihr? Was sagt ihr, wer ich bin?“ „Habt ihr nichts gefangen, sind eure Netze leer?“ Hier stellt Gott zuerst eine ganz wichtige Frage: „Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her?“

Was ist deine Antwort? Welche Vergangenheit umklammert dein Herz? Welche Enttäuschung macht dich bitter? Welcher Ärger sitzt so tief? Welche Misere lässt dich nicht los? Welches Unheil nimmt dich in Beschlag und raubt dir alle Ruhe, allen Frieden? Wo kommst du her? Manche werden vielleicht sagen: „Ich komme aus der Gelassenheit und habe Ruhe und Frieden in Jesus gefunden. Das trägt. Ich muss vor nichts mehr davonlaufen.“ Das ist gut, danke Gott dafür! Manche werden gar nicht in der Lage sein, ihre Lage ehrlich und aufrichtig einzuschätzen. Manche aber wissen, was sie zu antworten haben. Ich möchte euch, ich möchte uns ermutigen, dass wir Gott ganz ehrlich unsere Antwort geben, wie Hagar es gemacht hat. „Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“ Dieser Satz ist nüchtern, knapp und ehrlich. Keine Anschuldigungen, keine Ausreden, keine Verbitterung oder verletzte Gefühle. Nein, Hagar ist ehrlich. Denn in der Gegenwart Gottes erübrigen sich Ausreden und Erklärungen. Sie weiß, dass sie sich in eine sehr missliche Lage gebracht hat. Sie ist auf der Flucht.

Und jetzt wird’s spannend. Wie geht Gott mit der geflohenen Sklavin um? Welche Strafe wird Gott ihr auferlegen? Nachdem Gott sie eingeholt und überführt und gestellt hat: Wie geht es jetzt weiter? Der Bote hatte ja noch die zweite Frage gestellt: „Wo willst du hin?“ Die Antwort darauf gibt nicht Hagar, sondern der Engel selbst. „Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand!“ Da muss Hagar erstmal schlucken. Weiß der Engel nicht, dass nach der Geburt des Kindes eine Todesstrafe auf sie warten könnte? Weggelaufene Sklaven haben keine Aussicht auf Gnade. Aber

4.             Gott hat ein Herz für Außenseiter und schenkt ihnen Zukunft

Er verspricht Hagar, dass sie einen gesunden Sohn auf die Welt bringen wird. Er spricht von ihrem Nachkommen, Ismael wird ihr Sohn sein. Sie wird erleben, dass ihr Sohn ein Wildfang wird. Ihr Sohn bekommt eine Identität und eine Zukunft. Und sie ist eine Frau, die Gott nicht überhört und nicht übersieht. Denn Gott hat ein Herz für Außenseiter. Das setzt sich in der Geschichte fort. Ich nenne nur mal drei Namen von Frauen, die Gott nicht übersieht, sondern würdigt und segnet: Tamar, einen Kanaaniterin, die im Stamme Juda eine wesentliche Rolle spielt. Rahab, eine Prostituierte aus Jericho oder Rut, eine Moabiterin. Und Jesus macht gerade so weiter. Er heilt die Tochter einer Heidin aus Phönizien, hilft einem verzweifelten römischen Hauptmann und sendet schließlich seine Jünger in die ganze Welt, auch zu den Heiden.

Eine ganz arg fromme Frau hat sich mal sehr über die Hagar entrüstet und nicht verstanden, warum Gott mit diesem Flittchen so barmherzig umgeht. Hagar sei doch eine böse und gottlose Frau, ihre ganze Existenz und erst recht die ihres Sohnes seien ein Betriebsunfall, nichts als Unheil sei daraus hervorgegangen. Nein, also das hätte alles erst gar nicht passieren dürfen. Diese ach so fromme Frau hat ja nicht ganz unrecht: Das hätte nie passieren sollen. Aber die ist Bibel voll von Ereignissen, die nie hätten passieren sollen. Angefangen hat das mit dem Sündenfall. Und danach geschehen andauernd Dinge, die nicht hätten passieren dürfen. Aber deswegen hat Gott uns ja nicht abgeschrieben. Deswegen hat er auch die Hagar nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Sondern Gott ist ein Gott, der das alles sieht. Und das erkennt die ägyptische Sklavin Hagar. Darum fasse ich das nochmal kurz zusammen unter dem letzten Punkt:

5.             Gott sieht und lässt sich sehen

Gott sieht unser Leben und unser Geworden sein. Er sieht unser Versagen, aber er sieht auch, dass wir Leidtragende sind. Wir sind nicht für alle Entwicklungen und Umstände in unserem Leben verantwortlich. Ja, wir sind Täter, aber auch Opfer und Spielball. Das entbindet uns nicht von unserer Verantwortung für unser Leben, aber es nimmt auch ein Stück Last von unseren Herzen.

Gott sieht und geht uns nach. Er will uns einholen. Es ist gar nicht nötig, dass wir uns vor ihm verstecken. Denn weil er uns sieht, deswegen können wir aufrichtig vor ihm sein. Er will uns wieder zurecht bringen und uns eine Zukunft geben. Denn er hat ein Herz für gescheiterte Existenzen und für Außenseiter.

Und schließlich ist er der Gott, der nicht nur uns sieht, sondern der sich von uns sehen lässt. Denn Hagar sagt: „Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“ In der Neues-Leben-Bibel wird das so übersetzt: „Da nannte Hagar den Herrn, der zu ihr gesprochen hatte, El Roí (Gott, der mich sieht). Denn sie sagte: Ich habe den gesehen, der mich sieht.“ El Roí, das ist nicht nur der Gott, der mich sieht, sondern der sich sehen lässt.

Ich wünsche uns, dass wir immer dankbarer darüber sind, dass Gott uns sieht und dass wir ihn immer besser in unserem Leben sehen und erkennen.

AMEN