Predigt über Lukas 16,19-31

 

Liebe Gemeinde,

 

„Hinterm Horizont geht’s weiter“ – so singt Udo Lindenberg in einem seiner Lieder. „Hinterm Horizont geht’s weiter“ – aber viele Menschen haben einen sehr begrenzten Horizont. Sie sehen nur ihre kleine Welt, sie denken nur an die nächsten Wochen und Monate. Und wenn sie weiterdenken, dann ist oftmals der Tod die Grenze des eigenen Horizonts. „Hinterm Horizont geht’s weiter“ – Jesus erzählt uns eine Geschichte, in der wir einen Blick über den Horizont dieses Lebens hinauswerfen können. Nicht um unsere Neugier zu befriedigen, sondern um unseren Blick für dieses Leben vor Gott und mit Gott zu schärfen. Deshalb lohnt es sich, die Geschichte näher anzusehen.

 

Zwei Personen werden uns vorgestellt, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite ist einer, der keinen Namen bekommt. Wir erfahren von ihm, dass er reich ist. Deswegen wird er auch nur „der reiche Mann“ genannt. Dass er reich ist sieht man nicht nur an seiner teuren Kleidung. Das ganze Leben dieses Mannes scheint eine einzige Party gewesen zu sein. Ihm ging es gut, ein Fest jagte das andere, eine Mahlzeit die andere. Solche Partylöwen gibt es ja bis heute. In den Illustrierten glitzern sie uns an. So einer muss der Reiche damals auch gewesen sein. Er hatte so viel, dass er nicht mehr zu arbeiten brauchte. Kurzum: Er lebte auf der Sonnenseite des Lebens.

 

Ganz anders der andere, von dem wir in der Geschichte erfahren. Er war arm. Er lebt auf der Schattenseite des Lebens. Vor dem Haus des Wohlhabenden, auf der Straße fristete er sein Dasein. Er war obdachlos. Doch nicht nur das, er hat auch nicht genug zu essen. Er hofft, von den Abfällen der Partys des Reichen satt zu werden. Dabei geht es nicht um die Reste, die vom Buffet des Festmahls übrigbleiben, sondern um Fladenbrotstücke, mit denen man sich nach den Mahlzeiten die Finger abgeputzt hat. Das waren Servietten aus Brot. Das war so eklig, das war bestenfalls was für Tiere. Aber der arme Mann war auf diese Abfälle angewiesen. Doch damit nicht genug, auch gesundheitlich war er angeschlagen. Er hatte Geschwüre, die ihm zu schaffen machen. Und selbst das ist noch nicht alles. Hunde kommen, interessieren sich wie er für die Essensreste und lecken ihm schmerzhaft in den Geschwüren. Die Hunde waren keine Haushunde, sondern Straßenköter. In dieser Umgebung musste er leben – und hatte dabei stets vor Augen, dass es auch Menschen gab, die es besser hatten. Man kann sich vorstellen, wie das gewesen sein muss, stets die Musik der Partys des Reichen zu hören. Nur eines hat dieser Arme vorzuweisen: Einen Namen. Vom reichen Mann wird uns kein Name genannt. Der Arme hat einen Namen. Er heißt Lazarus, Gott hilft. Gotthilf: das ist nicht nur ein Name, das ist ein Programm: Bei Gott ist seine Hilfe. Aber das ist auch schon alles, was wir in wenigen Worten über das irdische Leben der beiden zu hören bekommen.

 

Das nächste, was uns berichtet wird, ist ihr Tod. Der Reiche wird begraben, und jeder kann sich ausmalen, was für ein vornehmes Begräbnis das gewesen sein muss. Die ganze High Society der Stadt war da, und auch der Leichenschmaus war ein einziger Luxus. Bei Lazarus ist nicht von einem Begräbnis die Rede. Er wird allenfalls ein Armenbegräbnis erhalten haben. Aber was gesagt wird, ist viel mehr: Er wird von den Engeln in Abrahams Schoss getragen. Jetzt wird es erst recht spannend, weil klar wird: Ab jetzt wird es anders. Mehr noch: Die Worte von den Engeln und von Abrahams Schoß lassen spüren: Jetzt wird es gut. Von Engeln getragen, dann beschützt vom Urvater Abraham. Da ist gut sein. Da kann er sich von den Strapazen des Lebens erholen. Das gönnen wir ihm, der während seiner Lebenszeit nur Entbehrung erleiden musste.

 

Und der Reiche? Der ist plötzlich ein armer Tropf. Er kommt ins Totenreich. In manchen Bibelübersetzungen steht hier „Hölle“, aber gemeint ist der „Hades“, das Totenreich. Beide, Lazarus und der vormals Reiche sind nicht im Himmel und in der Hölle, sondern in einem Zwischenzustand. Wichtig ist vor allem der Unterschied: Der, der früher reich war, leidet jetzt Qual. Und in dieser Qual sieht er von ferne den anderen, Lazarus. Bisher hatte er ihn übersehen. Jetzt beachtet er ihn. Und er wendet sich an Abraham, den er „Vater“ nennt. Er, dem früher das Beste kaum gut genug war, wird auf einmal erstaunlich anspruchslos. Er wäre schon zufrieden, wenn Lazarus zu ihm kommen könnte, seinen Finger ins Wasser tauchen und seine Zunge kühlen würde. Abraham antwortet ihm und redet ihn mit „Sohn“ an. Offensichtlich war auch er einer, der zum Volk Gottes gehörte. Wir würden heute sagen: Einer, der getauft und Mitglied der Kirche war. Er gehörte dazu – aber nun ist er nicht mehr dabei. Ob wir uns das Totenreich und Abrahams Schoß vorstellen können, spielt keine Rolle. Ebenso wenig, ob wir es für möglich halten, dass der jetzt Arme und früher Reiche Abraham tatsächlich sehen und mit ihm reden kann. Wichtig ist: Zwischen beiden ist eine Kluft, die von keiner Seite aus überwunden werden kann. Die Trennung ist endgültig. Der vormals Reiche wird nicht nur anspruchslos, er tut auch etwas, was er sein Leben lang nicht getan hat: Er denkt an andere. Er denkt an seine fünf Brüder, die noch auf der Erde leben. Er möchte nicht, dass sie dasselbe Schicksal wie ihn ereilt. Er bittet Abraham, doch den Lazarus aus dem Tod wieder zurück auf die Erde kehren zu lassen. Abraham lehnt den Wunsch des nicht mehr Reichen ab. Er weist ihn darauf hin, dass das, was er will, ja eigentlich längst da ist. Es gibt Menschen, die vor dem warnen, was nach dem Tod kommen kann. Und damit endet dann die Geschichte.

 

Liebe Gemeinde, was macht denn nun den Unterschied zwischen dem namenlosen reichen Mann und dem Armen, der Lazarus, Gotthilf, heißt? In der Geschichte wird nichts genannt. Weder der Reiche noch Lazarus wird beurteilt. Wie kommt es dann, dass sich für beide nach dem Tod das Schicksal wendet? Ist es ein Automatismus? Wem es hier auf Erden gut geht, dem geht es danach schlecht und umgekehrt? So eine Art ausgleichender Gerechtigkeit? Das meinen manche, aber davon wird uns nichts gesagt. Es wird nicht gesagt, dass Reichtum schlecht und Armut gut ist.

 

Deswegen sagen andere, es könne nicht der Reichtum an sich sein. Nein, nein, das Problem sei, dass der Reiche nicht die Not des anderen gesehen habe. Das ist sicher nicht ganz falsch, aber so steht es eben auch nicht da.

 

Andere denken: Die Geschichte steht in der Bibel, da muss es ja um Glauben gehen, denn wir wissen doch, dass es vor Gott auf Glauben ankommt. Und dann wird vermutet, der Reiche habe nicht an Gott geglaubt, aber Lazarus habe an Gott geglaubt. So steht das aber auch nicht da, obwohl es der Sache näher kommt.

 

Wir haben immer noch nicht die Lösung in der Frage, was zum grundlegenden Wechsel für beide nach dem Tod führt. Einer Lösung kommen wir vom Ende der Geschichte her näher. Da geht es um die fünf Brüder des reichen Mannes. Ihnen droht dasselbe Schicksal wie dem sechsten von ihnen, der nicht mehr bei ihnen ist, dem reichen Mann. Dieses Schicksal kommt nicht automatisch und nicht, weil sie reich sind. Es kommt dann, wenn sie nicht hören. Wenn sie nicht auf Mose und die Propheten hören. Mose und die Propheten stehen hier für Boten, die Gott sendet, um seinen Willen zu verkündigen. Sie stehen zugleich für das Bibelwort, hier für das Alte Testament. Auf Mose und auf die Propheten hören heißt daher, auf den Willen Gottes hören. Dieser Wille Gottes ist im Bibelwort klar gegeben. Da ist zu hören: „Es soll bei dir keinen Bedürftigen geben“ (5. Mose 15,4). „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ich bin der HERR!“ (3. Mose 19,18). Das hat der reiche Mann überhört oder nicht hören wollen: den einfachen und klaren Willen Gottes, seine Weisung für unser Leben. Das hat im Leben des reichen Mannes keine Rolle gespielt. Gottes Weisung für das Leben vor Gott und das Leben in der Gemeinschaft mit andern Menschen. Darauf kommt es an: Auf das Hören zuallererst. Aber nicht auf das Hören allein, denn möglicherweise war der reiche Mann auch im Konfirmandenunterricht gewesen und kannte die zehn Gebote. Es kommt auf das Hören an, aber eben auch darauf, dass es nicht beim Hören bleibt, sondern dass aus dem Horchen ein Gehorchen wird und dass das Gehörte im Leben sich auswirkt und umgesetzt wird. Mit andern Worten: Auf den gelebten Glauben, auf Glauben, der in der Liebe tätig ist. Nicht sein Reichtum wurde dem reichen Mann zum Verhängnis, sondern dass er so lebte, als gäbe es keinen Gott. Er fragte nicht nach dem Willen Gottes. Er dachte nicht daran, dass auch er einmal vor Gott Rechenschaft über sein Leben geben werden müsse. Dass er so gott-los lebte, war nicht nur eine Frage seiner persönlichen religiösen Überzeugung, sondern dass er gott-los lebt, war gemeinschaftsschädigend. Ein anderer hatte darunter zu leiden: Lazarus. Er wurde übersehen und übergangen. Damit sehen wir klarer, was das Versäumnis und die Schuld des reichen Mannes waren.

 

Liebe Gemeinde, die Geschichte, die Jesus erzählt, endet nicht glücklich mit einem happy end. Sie hat eine sehr ernüchternde Botschaft: Es gibt ein Zuspät. Das müssten wir doch alle wissen: Der Tod setzt meinem Leben ein Ende. Was ich davor versäume, kann ich nicht einfach hinterher nachholen. Es geht nicht darum, im Einzelnen auszumalen, was nach der Todesgrenze kommt. Auf jeden Fall aber ist der Tod kein Schlupfloch für das, was wir hier versäumt haben. Die Bibel ist hier sehr nüchtern: Das Leben hier ist einzigartig, hier fallen Entscheidungen von bleibender Bedeutung. Jetzt ist diese Zeit! Jetzt ist die Zeit, auf Gott zu hören! Jetzt ist die Zeit, seine Weisung zu Herzen zu nehmen. Jetzt ist die Zeit, die Not des andern zu sehen und ihm beizustehen. Jetzt ist die Zeit, den Nächsten meine Liebe spüren zu lassen. Jetzt ist die Zeit! Nicht das Danach ist von Interesse, nicht Spekulationen über Gottes Welt und das Totenreich. Der Akzent liegt auf dem, was die fünf Brüder jetzt tun können und sollen: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen … und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). Ja, mit der Liebe Gottes beginnt das Entscheidende. Martin Luther schreibt in einer Predigt zu dieser Geschichte: „Wer Gottes Güte fühlt, der fühlt auch seines Nächsten

 

Unglück. Wer aber Gottes Güte nicht fühlt, der fühlt auch seines Nächsten Unglück nicht“. In der Tat, damit beginnt alles: Dass wir Gottes Güte fühlen, seine Liebe erfahren, auf ihn hören, und dann seine Liebe erwidern. Es geht um das Einfache, Elementare. Gottes Wort hören und im Alltag realisieren. Es geht um den Glauben, der in der Liebe tätig wird. Glaube ist nicht nur etwas für den Kopf, nicht nur eine Meinung. Zum Glauben gehört die Frage, wie wir miteinander und mit anderen umgehen. Andersherum gesagt: Wer auf Gott hört, dem werden die Augen für die Not des Nächsten geöffnet. Für Menschen, die Hunger leiden. Hunger nach Brot, aber auch Hunger nach Liebe, nach Wertschätzung. Kinder und alte Menschen voller Hunger danach, dass jemand Zeit für sie hat. Menschen, die nach Zuwendung, nach Aufmerksamkeit hungern. Die wünschen, dass jemand ihnen zeigt: Du bist für mich wichtig! Menschen, die ohne Hoffnung und Orientierung leben und nach Hoffnung hungern. Hunger gibt es sicher bei den fernen Nächsten in Afrika und den Hungergebieten dieser Welt. Hunger gibt es aber auch in unserer Stadt und in unserer Nachbarschaft.

 

Liebe Gemeinde, für wen erzählt Jesus diese Geschichte? Er erzählt sie für die Verwandten und Nachkommen des Lazarus. Für alle, über deren Leben „Lazarus“ steht, Gotthilf. Für alle, in deren Lebensmitte das steht: Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Für alle, die hier im Leben zu kurz kommen, benachteiligt sind – und dennoch von Gott her ihre Hilfe erwarten: Gott hilf! Für die Opfer von Krieg und Gewalt. Für ausgebeutete und geschändete Frauen, Männer und Kinder. Für die, denen ihr Recht vorenthalten wird. Für Hungernde und Ausgestoßene jeder Art. Blickt weiter! Euer Recht ist bei Gott! Nicht die Peiniger haben das letzte Wort. Nicht die Reichen, deren Herz kalt ist. Gott hat das letzte Wort. Bei ihm ist Hilfe und Trost. Denkt an Lazarus: Gott hilft!

 

Jesus erzählt die Geschichte auch und vor allem für die fünf Brüder des reichen Mannes. Er erzählt sie nicht, weil er den Brüdern und uns die Hölle heiß machen will. Ganz im Gegenteil. Er erzählt sie, damit nicht eintritt, was die Geschichte erzählt. Er erzählt sie, damit die fünf Brüder des reichen Mannes und alle seine Verwandten und Nachkommen, die noch leben und heute hier unter uns sind, auf Mose und die Propheten hören. Damit sie Gottes Willen beherzigen. Was zu tun ist, ist sonnenklar. Dazu ermutigt Jesus: Nicht wie der Reiche sollt ihr es machen, sondern die Chance nutzen, die seinen Brüdern noch bleibt. Um vor Gott zu bestehen, bedarf es keiner besonderer Visionen oder Erscheinungen. Das Hören auf Gott, der einfache, bekannte Wille Gottes genügt. Die Geschichte bricht damit ab. Der Ball wird weiter gegeben. Weitergegeben an die fünf Brüder des reichen Mannes. Weiter an jeden einzelnen und jede einzelne von uns.

 

AMEN