Jesaja 63,15-64,3

 

Liebe Gemeinde,

 

ich lese uns den Predigttext aus dem alttestamentlichen Prophetenbuch des Jesaja vor (nach Luther):

 

„So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

 

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten, wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! – und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohltut denen, die auf ihn harren.“

 

Bei so einem Text macht der Ton die Musik, die Körperhaltung des Beters sagt mehr als viele Worte und der Textzusammenhang bildet den Rahmen, in dem die Sätze eingebettet sind und der zum Verständnis ganz viel beiträgt.

 

Beim ersten Lesen dieser Verse habe ich merkwürdigerweise einen trotzigen und aggressiven Ton in meinem inneren Ohr gehört. Und vor meinem inneren Auge stand ein Mensch mit verschränkten Armen, der mit verbitterter Mine und vorwurfsvoller Haltung Gott anklagt. Ich übertrage ein paar Sätze aus dem biblischen Text hinein in diese Stimmung und Einstellung:

 

„So, du da oben in deinem wunderbaren Himmel, guck dir das Elend doch endlich mal an, das hier auf der Erde herrscht. Ganz offensichtlich sind wir dir egal, dein sogenanntes Mitleid hält sich echt in Grenzen! Du bist ein gnadenloser Gott, du bist ein herzloser Vater. Vater? Erlöser? Dass ich nicht lache. Du lässt uns doch sehenden Auges in die Irre gehen, du lässt es zu, dass wir starrsinnig und eigensinnig geworden sind. Du hast das doch zugelassen, dass wir vertrieben wurden, dass sogar dein Heiligtum verstört wurde. Du tust so, als ob du uns nicht kennen würdest, uns nie gekannt hast.“

 

Liebe Leute, ich war selbst überrascht und auch etwas erschrocken, dass ich diesen bissigen Klang und diese vorwurfsvolle Aggressivität wahrgenommen habe. Dann aber ist mir bewusst geworden, dass gerade in Krisenzeiten bei manchen Menschen eine solche Haltung Gott gegenüber zutage tritt. Soll ich euch ein paar Stichworte liefern? Corona, Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Impfstoffe, Fehler bei den Verantwortlichen, den Ämtern und Ministerien; Kriege und Hunger in der Welt; sämtliche Naturkatastrophen. Bei allem wird nach Schuldigen gesucht. Und nachdem „die anderen und die da oben“ hinlänglich traktiert wurden, muss natürlich Gott auch herhalten. Hat er das nicht alles zugelassen? Also soll er doch bitte schön gefälligst endlich was daran ändern.

 

Wir ahnen, dass das nicht die richtige Haltung und Einstellung Gott gegenüber ist. Denn wer meinen die Menschen zu sein, dass sie Gott zur Rechenschaft ziehen könnten? Und wie kommen Menschen dazu, von ihrem eigenen Scheitern und Versagen abzulenken und Gott die Schuld in die Schuhe zu schieben? Nein, die Menschen müssen eine andere Herzensgesinnung gewinnen, um in aller Not und in allen belastenden Herausforderungen angemessen mit Gott zu reden.

 

Jetzt schauen wir nochmal rein in den Text und versuchen, aus dem Textzusammenhang die Tonlage und die Haltung der Beter herauszuhören beziehungsweise zu erkennen. Deswegen lese ich uns einige Verse vor, die unserem Textabschnitt vorausgehen:

 

Jesaja 63,7-10

 

„Ich will der Gnade des HERRN gedenken und der Ruhmestaten des HERRN in allem, was uns der HERR getan hat, und der großen Güte an dem Hause Israel, die er ihnen erwiesen hat nach seiner Barmherzigkeit und großen Gnade. Denn er sprach: Sie sind ja mein Volk, Söhne, die nicht falsch sind. Darum ward er ihr Heiland in aller ihrer Not. Nicht ein Engel und nicht ein Bote, sondern sein Angesicht half ihnen. Er erlöste sie, weil er sie liebte und Erbarmen mit ihnen hatte. Er nahm sie auf und trug sie allezeit von alters her. Aber sie waren widerspenstig und betrübten seinen Heiligen Geist; darum ward er ihr Feind und stritt wider sie.“

 

Unter den Vorzeichen dieser Aussagen bekommen die Gebetsworte unseres Predigttextes einen anderen Klang, eine andere Farbe, eine andere Körpersprache. Hier klagen und schreien, hier vertrauen und glauben, hier hoffen und harren Menschen, die Gott kennen und die um ihre Schuldhaftigkeit wissen. Mit dieser Haltung klagen, glauben und hoffen sie. Der Klang des Gebets ist ein flehendes Bitten, ein demütiges Rufen und die Körperhaltung drückt Bescheidenheit und Beugung aus. Daraus lernen wir drei Dinge.

 

1.           Du darfst klagen: „Gott, wo bist du?“

 

Wir haben in letzter Zeit immer wieder in den Gottesdiensten darüber nachgedacht, dass es in der Bibel eine Fülle von Klagegebeten gibt. Erinnern wir uns vielleicht noch an die Worte aus Psalm 13? „Herr, wie lange wisst du mich vergessen? Wie lange soll ich mich in meinem Herzen sorgen? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“ Hier in Jesaja 63 klagen die Gottesfürchtigen: „Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?“ In dieser Frage und Klage schwingt das Bewusstsein mit, dass wir Gott nicht zwingen können, uns zu erhören und zu helfen. Sondern wer Gott sein Leid klagt, macht sich auf Gedeih und Verderb von Gott abhängig. Abhängig aber sind wir von dem, den wir im Glauben „Vater“ nennen dürfen. Von ihm heißt es ja: „Er erlöste sie, weil er sie liebte und Erbarmen mit ihnen hatte.“ Dem dürfen wir unser Leid klagen. Und ihn dürfen wir auch fragen: „Wie lange noch, Herr? Wann wirst du diese Welt von all ihren Schrecken, von allem Bösen, von allem Leid erlösen?“ Aber nicht nur die Not und die Last der Welt können wir ihm klagen. Sondern auch die geistliche Verfassung der Menschen – und dem entsprechend auch unsere geistliche Verfassung.

 

Aber es ist aus meiner Sicht ein Unterschied, ob ein Mensch „sich beklagt“ oder ob ein Mensch Gott die Missstände klagt. Wer sich beklagt, wendet sich nicht an die richtige, die maßgebliche Adresse, sondern an jemanden, der auch nichts ändern kann. Wir können und sollen Gott ruhig klagen, dass wir den Eindruck haben, er habe uns aus den Augen verloren, er habe uns in die Irre laufen lassen, er habe sich von uns abgewendet. Ja, „Gott sei’s geklagt“, das und vieles mehr! Raus damit.

 

Das gehört in die Adventszeit hinein, in der es um die Ankunft Gottes in diese beklagenswerte Welt geht. Wir sollen und dürfen es wagen, weil Gott vertrauenswürdig ist.

 

2.           Du kannst es glauben: „Du, Herr, bist unser Vater!“

 

Gäbe es keinen Gott im Himmel, könnten wir angesichts des Leides doch nur verbittert schweigen und leiden. Wem wollten wir das alles klagen? Gäbe es keinen Gott, dann würden wir mit dem tschechischen Philosophen Milan Machovec fragen: „Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?“ Oh ja, es gibt viele Lebensschicksale und viele Tragödien in der Weltgeschichte, die der Ansicht widersprechen, dass „überm Sternenzelt ein lieber Vater wohnt“. Aber wenn Gott sich uns zu erkennen gibt, wenn er tröstliche und ermutigende Worte zu uns spricht, wenn er ein Wunder an unseren Herzen tut, dann wissen wir, dass Gott im Himmel für uns da ist und dass er unablässig vom Himmel und seiner heiligen und herrlichen Wohnung herabschaut. Darum können wir darauf vertrauen, dass Gott im Himmel Anteil nimmt an unserem Leben und Erleben.

 

Dabei erkenne und verstehe ich die problematische Herausforderung, dass wir gern erstmal sehen und erfahren wollen, dass Gott sich wie ein Vater um uns kümmert. Und dann wollen wir ihm auch unser Vertrauen schenken. Wenn wir seine Hilfe erfahren, dann glauben wir, dass er der Helfer ist. Wenn wir sein Handeln mit eigenen Augen sehen, dann glauben wir, dass er sich für uns einsetzt. Und wenn wir seine Liebe spüren, dann glauben wir, dass er uns liebt. Das Erstaunliche ist, dass Gott sich immer und immer wieder gezeigt hat. Die betende Gemeinde zur Zeit des Jesaja und darüber hinaus zu allen Zeiten sagt: „Ich will der Gnade des HERRN gedenken und der Ruhmestaten des HERRN in allem, was uns der HERR getan hat, und der großen Güte an dem Hause Israel, die er ihnen erwiesen hat nach seiner Barmherzigkeit und großen Gnade.“ Aber nicht nur am Haus Israel, sondern an der ganzen Welt hat er Gnade und Güte erwiesen. Denn der Vater im Himmel ist uns so unglaublich entgegengekommen! Er hat uns seinen Sohn gesandt, der tatsächlich den Himmel zerrissen hat und zu uns Menschen gekommen ist. Sein Sohn hat uns unüberhörbar zugerufen, dass Gott unser Vater im Himmel ist. Sein Sohn ruft die verirrten und verstockten Menschen zurück in die Liebe des Vaters. Sein Sohn hat uns die Liebe des Vaters unter Beweis gestellt und sich für uns mit Leib und Leben eingesetzt, ja, sein Leben geopfert und damit die Brücke zu Gott gebaut.

 

Wenn wir Gott so als unseren Vater erkennen und ihm glauben, wenn wir uns so dem Sohn Gottes anvertrauen und mit ihm leben, dann mag es Lebenslagen geben, die uns belasten und verzweifeln lassen. Aber gerade dann sind wir eingeladen zu glauben. Im Warschauer Ghetto war zu lesen: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre. Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“ Wir haben alle schon die Sonne gesehen und wissen, dass es die Sonne gibt, auch wenn um uns herum finstere Nacht ist. Wir haben alle schon Liebe erfahren und glauben an sie, obwohl es um uns herum so lieblos zugeht. Gott aber haben wir noch nicht gesehen. Aber wir haben die berechtigte Hoffnung, dass wir ihn in der himmlischen Herrlichkeit sehen werden. Darum:

 

3.           Du sollst hoffen: „Es gibt keinen Gott außer dir, der so wohltut!“

 

Sehnsucht und Hoffnung sind ganz starke Kräfte in unserem Leben. Und je größer die Not und die Belastungen sind desto stärker ist die Sehnsucht nach Erlösung und die Hoffnung auf Rettung. Wer krank ist sehnt sich nach Genesung. Wer überfordert ist hofft auch Unterstützung. Wer schwach ist wünscht sich neue Kraft. Und wer um die Begrenztheit und Endlichkeit des eigenen Lebens weiß hofft auf ewige Erlösung und himmlischen Frieden. „Maranatha!“ Unser Herr komm bald! So haben die ersten Christen gebetet, so betet die Gemeinde Jesu weltweit. Denn wir finden uns nicht damit ab, dass die Geschichte einfach immer so weitergeht und sich das Böse weiterhin ungebremst austoben kann. Und darum rufen wir aus zwei guten Gründen: Herr, komm bald! Erstens sehnen wir uns danach, dass das Elend endlich ein Ende findet. Und zweitens motiviert uns die Freude auf die Begegnung mit Jesus bei seiner Wiederkunft.

 

Genährt wird diese Hoffnung von unserer Überzeugung und Erfahrung, dass es keinen Gott gibt, der so viel Gutes tut, außer unserem Gott. Und der tut nicht nur Gutes, sondern der tut auch wirklich gut. Dieser Gott hat die Geburt seines Sohnes angekündigt, er hat sein Kommen versprochen. Und er hat seine Zusage erfüllt. Deswegen glauben und hoffen wir, dass Gott auch diese Verheißung wahr machen wird: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen. Darin wird es kein Leid und kein Geschrei mehr geben, keinen Hunger und keinen Krieg, keine Schmerzen und keinen Tod! Freut euch auf das was ich schaffen werde!“

 

Ich bin tatsächlich guter Hoffnung (nein, nicht schwanger, aber „guter Hoffnung“!). Und in der Adventszeit wird die Hoffnung immer wieder neu gefüttert. Weihnachten war der Start und die Wiederkunft Jesu und die Vollendung der Welt ist das Ziel. Darauf besinnen wir uns im Advent. Darum beten wir im Advent. Wir dürfen klagen, wir können glauben und wir sollen hoffen.

 

AMEN