Johannes 9,1-7

 

Liebe Gemeinde,

 

wenn ich uns jetzt den Predigttext vorlese, dann bitte ich euch, dabei die Augen zu schließen. Haltet die Augen wirklich bis zum letzten Vers geschlossen.[1]

 

1 Im Vorübergehen sah er einen Mann, der von Geburt an blind war.

 

2 Da fragten ihn seine Jünger: »Rabbi, wer hat gesündigt, dieser Mann oder seine Eltern, dass er als Blinder geboren worden ist?«

 

3 Jesus antwortete: »Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern; sondern (dazu ist es geschehen,) damit das Wirken Gottes an ihm offenbar würde. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.«

 

6 Nach diesen Worten spie er auf den Boden, stellte mit dem Speichel einen Teig her, legte dem Blinden den Teig auf die Augen 7 und sagte zu ihm: »Gehe hin, wasche dich im Teiche Siloah!« – Das heißt übersetzt ›Abgesandter‹. – Da ging er hin, wusch sich und kam sehend zurück.

 

Ihr habt für ungefähr eine Minute lang nichts gesehen. Nur eine Minute! Der blind geborene Mann in der Geschichte aus Johannes 9 hat seit seiner Geburt, Zeit seines Lebens, nichts gesehen. Seine Eltern hat er noch nie gesehen. Zwar hat er gespürt, dass sie sich um ihn kümmern. Aber das Lächeln, die strahlenden Gesichter von Mutter und Vater kann er sich nicht vorstellen. Ebenso wenig kann er sich Farben vorstellen. Er hat noch nie gesehen, wie die Sonne aufgeht. Und er kann auch nicht sehen, wie sich der Tag dem Ende zuneigt, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwindet und dann die Sterne funkeln. Die Schönheit der Natur, die bunten Blumen, das tiefblaue Meer, die weißen Schneeberge, den Himmel und die Weite einer Ebene, das alles kann er nicht sehen.

 

Er war ausgeliefert, völlig auf fremde Hilfe angewiesen. Blindenschrift gab es noch keine. Er konnte sich auch nicht bilden, konnte die Heiligen Schriften nicht lesen und darum auch nicht vollumfänglich befolgen. Damit ist er sozusagen einer, der ständig das Gesetz übertritt. Und so ruft man bei seinem Anblick beschwörend und abwehrend aus: „Gepriesen ist der Richter der Wahrheit.“ Damit wird jedes Mal ausgesprochen, dass seine Blindheit ein gerechtes Urteil Gottes über seine Sünde oder über die Sünde seiner Eltern sein muss. Wie ein Fluch also lastet die Blindheit auf seinem Leben. Er ist hoffnungslos isoliert. Denn keiner hat mehr Hoffnung für ihn. Abgeschrieben von Menschen und abgeschrieben offensichtlich auch von Gott.

 

Dann aber passiert das, was alles verändert. „Im Vorübergehen sieht Jesus einen Menschen, der von Geburt an blind war.“ Das hört sich an, als ob das so nebenbei passiert. Das klingt wie zufällig. Ist aber kein Zufall. Sondern Jesus sieht diesen bedauernswerten Menschen. Jesus fasst den ins Auge, den die Leute am liebsten aus den Augen verlieren möchten. Jesus sieht. Ungefragt, ungerufen, ohne Bitten und Flehen vom Blinden selbst oder von anderen beugt Jesus sich helfend herab. Er nimmt Anteil am Leiden. Jesus sieht mehr als nur die blinden Augen, er sieht auch die verwundete Seele und das verletzte Herz.

 

Jesus sieht. Ich bin davon überzeugt, dass er auch uns jetzt und hier und heute sieht. Er sieht unsere äußeren und inneren Gebrechen. Er sieht, wie es in uns aussieht und was wir durchmachen müssen. Er sieht deinen Gesundheitszustand und die enger werdenden Grenzen. Er sieht deine Trauer um den lieben Menschen, den du verloren hast und sieht die Leere, die sich in deinem Inneren ausbreitet. Er sieht deine Sorge um die Kinder und die schulische Entwicklung angesichts von Corona. Er sieht die inneren Verletzungen und das Scheitern einer Beziehung. Er sieht deine finanziellen Engpässe. Er sieht die Eintönigkeit deines Alltags, weil du keine großen Sprünge mehr machen kannst. Das alles sieht Jesus.

 

Und während wir gar zu oft und zu gern fragen, warum das nur so ist und wer daran schuld ist („Rabbi, wer hat gesündigt???“), stellt Jesus diese Frage überraschenderweise nicht!

 

Es entsteht ja so oft der Eindruck, dass Jesus und Gott, dass die Bibel und die Kirche andauernd den Leuten ein schlechtes Gewissen machen, weil sie so sündig und so böse sind. Aber es ist auffällig, dass Jesus das Thema Sünde gar nicht so häufig traktiert, wie wir vermuten. Auch geht es ihm nicht darum, sündhaftes Verhalten offen zu legen und anzuprangern, sondern voller Erbarmen will er den Menschen in ihren Lebenslagen begegnen.

 

Jesus sieht. Und er sieht auch seine Jünger in dieser Situation. Er sieht sie mit ihrer Sicht und Einschätzung dieses Falles. Denn das ist es für die Jünger: ein Fall! Noch nicht einmal ein medizinischer Fall, sondern ein theologischer. Jesus sieht seine Jünger und ihre distanziert religiöse Neugier. „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“

 

Jesus sieht die Blindheit seiner Leute. Sie sind geblendet von der rabbinischen Vergeltungstheologie, die besagt, dass kein Tod ohne Sünde und keine Strafe ohne Schuld ist. Jesus sieht die rechthaberische, verbissene und unbarmherzige Einstellung, die auch die Jünger blind gemacht hat. Er sieht, was für ein verzerrtes Gottesbild sie haben. In ihren Augen ist Gott der unbarmherzige Rächer, der jedes Vergehen sofort bestraft.

 

Natürlich weiß Jesus sehr wohl um den Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde. Aber er wehrt sich gegen das System, das immer nur nach dem Grund des Leidens fragt. Jesus fragt hier nicht nach der Ursache, sondern nach dem Zweck, nach dem Ziel.

 

Darum öffnet er zuerst seinen Jüngern die Augen. Gott ist beileibe nicht der große Rächer, der auf jede Sünde sofort mit der entsprechenden Strafe antwortet. Wer krank ist, der hat das eben nicht „verdient“. Das andere gilt entsprechend auch: wer gesund ist und ein glückliches Leben haben darf, der hat das auch nicht „verdient“!

 

Das starre System der Vergeltungstheologie lässt keinen Raum für die Souveränität Gottes und keinen Raum für die Gnade Gottes. Gott in seiner Souveränität stellt uns zuweilen in Herausforderungen, die wir nicht verstehen, die wir nicht ergründen und die wir auch nicht begründen können. Das tut er vielleicht, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass es ja gar nicht selbstverständlich ist, wenn es uns gut geht und wir gesund sind und alles glatt geht. Er tut das vielleicht, um uns zu zeigen, wir anfällig und brüchig unser Leben ist und wie sehr wir einen Trost und Halt brauchen, damit wir auch in Krisen nicht trostlos und haltlos sein müssen.

 

Und es widerfährt uns ja auch so manches Ungemach, das ist einfach so. Wir sind doch hineingestellt in eine Welt, in der wir mit Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheit konfrontiert werden. Als Teil dieser Weltgemeinschaft erleiden wir das mit, was unsere Umwelt und Gesellschaft beeinträchtigt. Wir werden nicht unbedingt vor solchen Schwierigkeiten bewahrt, aber wir können darin seine Nähe, seine Gnade, seinen Frieden erfahren. In dem Leid, das über uns hereingebrochen ist, schenkt er uns seine Gegenwart, seinen Trost.

 

Gott in seiner Souveränität und Gnade ist – Gott sei Dank dafür – größer als unseren starre Systeme und Konzepte. Ich möchte die Blindheit der Jünger noch mal etwas genauer betrachten. Sie sind blind aufgrund ihres unbarmherzigen Vergeltungsprinzip. Wir sind unter Umständen ja auch blind. Und insofern darauf angewiesen, dass Jesus uns die Augen öffnet. Vielleicht sind wir zuweilen blind vor Wut? Wütend auf einen Menschen, auf einen Umstand, den man nicht ändern kann, wütend auf Gott? Manche sind blind vor Eifer. Unbedingt - koste es was es wolle - muss das gemacht werden, was die sich vorgenommen haben. Und dabei sehen sie nicht mehr das, was sonst noch um sie herum passiert. Andere sind blind vor Stolz und Selbstzufriedenheit! „Ich bin gut, ich bin genial, ich habe es geschafft, mir kann keiner das Wasser reichen!“

 

Und das sieht Jesus, obwohl wir nicht nach ihm rufen und ihn um Hilfe bitten. Denn im Gegensatz zu dem Blindgeborenen aus dem biblischen Text merken wir ja oft gar nicht, wie blind wir sind.

 

Ich möchte nun mit euch beobachten, wie Jesus sich Jesus dem Blinden zuwendet. Er heilt ihn, aber nicht durch sein gebietendes Wort, wie bei anderen Heilungen, sondern er legt selbst Hand an. Jesus speit auf den Boden, knetet einen Teig aus Erde und Speichel und legt diesen Brei dem Blinden auf die Augen. Die naheliegende Erklärung für dieses umständliche Verfahren ist, dass Jesus direkt und spürbar an dem Mann handelt. Und Jesus fordert den Willen und den Glauben des Mannes heraus. Jesus schickt ihn zum Teich Siloah. Dort soll er sich waschen. Der Blinde gehorcht und vertraut im wahrsten Sinne des Wortes blind. Und er wird sehend.

 

Wenn sich Jesus uns zuwendet, dann will er auch an uns handeln. Dann will er uns berühren. Das geschieht heute nicht mit einem Brei aus Spuke und Erde. Das kann aber dennoch so geschehen, dass wir es spüren. Rein äußerlich mag es sein, dass wir uns von jemandem segnen lassen und dass uns dabei die Hände aufgelegt werden. Das mag sein, dass wir das Handeln Jesu im Abendmahl wieder ganz neu und bewusst erfassen. Wir nehmen Brot und Wein zu uns, und Jesus handelt in diesem Sakrament. Manchmal erlebe ich es auch, dass mich eine Aussage von Jesus oder ein Lied ganz tief berührt. Und dann ist es tatsächlich so, dass ich im guten Sinn des Wortes erschüttert und bewegt bin. Das ist dann eine Berührung, bei der mir tatsächlich vor Rührung die Tränen fließen. Dass Jesus mich so liebt, dass er für mich gelebt hat und gestorben ist! Dass Jesus will, dass ich im Himmel die ganze Ewigkeit mit ihm verbringe. Dass Jesus mich gebraucht und einsetzt und Menschen beschenkt und segnet. Das berührt mich.

 

Mir ist aufgefallen, dass Jesus den Blinden bei dem Heilungsgeschehen mit einbezieht. Er aktiviert ihn. Und diese Aktivierung hat schon was Provokatives an sich. Stellen wir uns doch die Szene mal vor. Der Blinde, der sowieso nichts sehen kann, der bekommt noch einen Augenmaske verpasst (allerdings ohne Quark und Gurkenscheiben). Und mit dieser Pampe auf den Augen soll er zum Teich Siloah gehen. Wir haben keine zweite Ortsangabe, deswegen wissen wir nicht, wie weit der Weg ist, der zu bewältigen hat. Aber der Blinde soll sich auf den Weg machen. Jesus begleitet ihn nicht, er führt und geleitet ihn auch nicht bis zu dem Teich. Der Mann soll im Vertrauen auf das Wort von Jesus losgehen und Schritte wagen.

 

Jesus beteiligt auch uns an dem Heilungsprozess. Auch wenn er ungefragt sieht und uns ungefragt berührt, will er doch, dass wir im Vertrauen Schritte wagen.

 

Wenn er uns zeigen will, dass uns unsere Wut blind macht, dann fordert er uns zu Schritten der Bescheidenheit auf. Denn ein Wüterich nimmt ja für sich in Anspruch, es besser zu wissen oder besser machen zu können als alle anderen. Und Jesus will die Wut nehmen und Demut schenken.

 

Wenn er uns von der „Augenkrankheit“ des blind machenden Eifers heilen will, dann erwartet er von uns Schritte der Gelassenheit. Dann befreit er uns von dem Druck, dass nur dann etwas vorwärts geht, wenn wir engagiert und fleißig sind.

 

Und wenn er uns die Augen dafür öffnen will, dass uns Stolz und Selbstzufriedenheit den klaren Blick verstellen, dann schickt er uns auf den Weg der Demut. Je länger desto mehr sehen wir klar, dass wir stolzen Menschenkinder uns über Gott erheben, dass wir den heiligen Gott missachten.

 

Bei all den Augenkrankheiten erwartet Jesus, dass wir davon geheilt werden wollen, dass wir auch geistlich betrachtet endlich richtig sehen wollen.

 

Dann geht also der noch blinde Mann zum Teich Siloah, wie Jesus es ihm aufgetragen hat, er wäscht sich und kann wieder sehen. Aber damit ist diese Geschichte ja noch nicht zu Ende. Weder für den Mann noch für uns. Denn der Mann ist zwar nun nicht mehr blind. Aber das wesentliche hat sich damit noch nicht zugetragen. Das passiert erst gegen Ende des Berichtes in Johannes 9. Da blickt der nun Sehende auch geistlich durch und erkennt Jesus als den Messias, als den Heiland. Johannes 9,35-38:

 

„Als Jesus hörte, dass sie ihn aus der Synagogengemeinde ausgeschlossen hatten, suchte er ihn auf und fragte ihn: »Willst du ganz zum Menschensohn gehören?« Der Mann antwortete: »Herr, wenn du mir sagst, wer es ist, will ich es tun.« Jesus sagte: »Er steht vor dir und spricht mit dir.« »Herr, ich will dir allein gehören!« sagte der Mann und warf sich vor Jesus nieder.“

 

Das ist das Ziel, das Jesus im Blick hat. Natürlich ist ihm die äußere Heilung wichtig. Natürlich will er, dass der Mann wieder sehen kann. Aber was hat der Geheilte davon, wenn er zwar mit seinen Augen im Kopf sehen kann, aber mit diesen sehenden Augen geradewegs ins gottlose Verderben hineinlebt. Darum ist der Zielpunkt der Geschichte der, dass der Geheilte Jesus als das Licht der Welt erkennt.

 

Und das wünsche ich uns je mehr und mehr. Dass wir Jesus immer mehr, immer besser sehen können, wer er ist und wie er ist und was er für uns sein will.

 

AMEN

 



[1] Wer die Predigt liest, mag nach dem Lesen des Predigttexte mal eine Minute lang die Augen schließen!