Predigt über Hebräer 4,14-16

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

ich lese uns den Predigttext vor. Er steht im so genannten Hebräerbrief, den ein uns unbekannter Verfasser an judenchristliche Gemeinden im römischen Reich geschrieben hat.

 

14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. 15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. 16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

 

Dieser Textabschnitt ist voll mit biblisch-theologischen Ausdrücken. Das macht es schwer, den Text gleich auf den ersten Blick zu verstehen, denn etliche Begriffe sind erklärungsbedürftig. Ich widerstehe jetzt der Versuchung, zunächst erstmal alle Fachausdrücke zu erläutern. Sondern ich will gleich zu Beginn vier Einsichten und Erkenntnisse benennen, die mich ansprechen, die mich ermutigen und die mir Trost und Hoffnung geben.

 

1.) Der Thron im Himmel ist besetzt!

 

2.) Der Thron Gottes ist ein Thron der GNADE, zu dem wir Zugang haben.

 

3.) Wir haben einen Jesus, der mit uns mitleidet!

 

4.) Wir haben einen erhabenen Jesus, bei dem wir Barmherzigkeit und Gnade und Hilfe finden!

 

Diese vier Aussagen will ich nun Schritt für Schritt entfalten und für uns als Ermutigung erläutern.

 

1.) Der Thron im Himmel ist besetzt!

 

Es gibt im letzten Buch der Bibel eine Feststellung, die ich sehr tröstlich finde. Der Apostel Johannes schreibt: „Ich blickte auf und sah im Himmel eine offene Tür (…) und ich sah: Im Himmel stand ein Thron. Und auf dem Thron saß einer“ (Offenbarung 4,1.2). Das wollen und sollen, das dürfen und müssen wir glauben, dass es einen gibt, der den Überblick und den Durchblick hat. Und gegen allen Augenschein halten wir mit einem geradezu trotzigen Glauben daran fest, dass Jesus Christus alle Herrschaftsmacht gegeben ist, im Himmel und auf der Erde. Er lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ja, im Himmel steht ein Thron. Und auf den Thron sitzt einer! Und der heißt nicht Putin. Der heißt auch nicht Joe Biden oder Donald Trump. Der heißt auch nicht Xi Jinping oder wer auch immer meint, Macht und Gewalt zu haben. Sondern auf dem Thron im Himmel sitzt Gott, der Allmächtige, der Vater, der Schöpfer des Himmels und der Erden. Und an seiner rechten Seite sitzt Jesus Christus, der Sohn Gottes. Ja, im Himmel steht ein Thron. Und auf dem Thron sitzt kein Despot, kein Aggressor, keiner, der willkürlich Städte bombardieren und zerstören lässt, der Menschen umbringen lässt, der Lügen über Lügen verbreitet, der einen Vernichtungskrieg mit wahnwitzigen Erklärungen rechtfertigt. Sondern auf dem himmlischen Thron sitzt der Gott, bei dem wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe nötig haben.

 

Der große Theologe Karl Barth hat am Tag vor seinem Tod im Dezember 1968 mit seinem alten Freund Eduard Thurneysen telefoniert. Die beiden Männer haben über die Lage in der Welt gesprochen: „Ja die Welt ist dunkel“, sagte Barth. Aber dann fügte er hinzu: „Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert!“

 

Von dem, der regiert, ist im Hebräerbrief die Rede. Dieses Schreiben an die Messias gläubigen Juden damals in Rom beginnt mit einem eindrücklichen Statement über Jesus. Unter anderen steht da, dass Jesus uns durch seinen Tod von der Last unserer Schuld befreit hat. Nach diesem stellvertretenden Sühnetod für uns hat Jesus den Ehrenplatz an der Seite Gottes eingenommen, dem alle Macht gehört (vgl. Hebräer 1,1-3). Darum heißt es in unserem Predigttext, dass der Thron im Himmel, auf dem Jesus regiert, der Thron der Gnade ist.

 

2.) Der Thron Gottes ist ein Thron der GNADE, zu dem wir Zugang haben. Im biblischen Text steht, dass wir mit Zuversicht vor den Gnadenthron kommen können. Hier muss ich dann doch ein paar Hintergrundinformationen einflechten, damit wir nachvollziehen können, was sich hinter dieser Formulierung verbirgt. Jesus wird als der große Hohepriester bezeichnet. Die wichtigste Aufgabe des Hohenpriesters im Volk Gottes war es, die Verbindung zu Gott herzustellen. Er war der Mittler zwischen Gott und Mensch. Jährlicher Höhepunkt seiner Amtstätigkeit war der große Versöhnungstag, an dem der Hohepriester in das Allerheiligste treten durfte. Hier, wo die Bundeslade stand, war der heiligste Ort auf Erden, denn hier hatte Gott seine Gegenwart zugesichert. Den Deckel über der Bundeslade nannte man den Thron der Gnade. Vor diesen Thron der Gnade im irdischen Heiligtum durfte aber wie gesagt nur der Hohepriester einmal im Jahr treten. Und nur durch ganz bestimmte Opferrituale war es möglich, dass Versöhnung stattfinden konnte. Wenn Jesus als der große Hohepriester bezeichnet wird, dann zeigt das, dass seine Versöhnungswerk größer und besser gewesen ist als das irdischen Hohenpriesters. Denn er hat mit dem Opfer seines eigenen Lebens ein für alle Mal Vergebung und Versöhnung erwirkt. Und mit seinem eigenen Opfer ist er nicht in ein irdisches Heiligtum getreten, sondern in das himmlische. Darum ist für uns der Zugang zum himmlischen Thron und zu dem, der darauf sitzt, frei. Jesus gestattet es uns, dass wir zu ihm kommen. Die Jahreslosung aus Johannes 6,37 sichert uns das zu: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

 

Der Verfasser des Hebräerbriefes kennt Jesus sehr gut. Und er betont ganz ausdrücklich, dass derjenige, der jetzt auf dem himmlischen Thron der Gnade sitzt, sehr gut und ganz genau weiß, wie es uns geht. Das ist mein dritter Gedanke: Wir haben einen Jesus, der mit uns mitleidet. Denn Jesus war als Mensch auf dieser Erde, er hat unter den ganz und gar menschlichen Bedingungen gelebt. Manche denken ja, dass Gott im Himmel so weit weg ist von unserer Realität, der weiß ja doch gar nicht, was wir hier mitmachen und durchmachen müssen. Der hat ja keine Ahnung, wie es ist, wenn die Sorgen wegen Krankheiten und Trauer uns zernagen. Was weiß der schon von Einsamkeit und Depression, von Angst vor Krieg und wahnsinnigen Despoten? Hat Jesus überhaupt einen Schimmer von meinem Kummer? Diesen Fragen begegnet das biblische Wort. Ja, Jesus kann mit uns mitleiden. Das meint nicht nur, dass er Mitleid empfinden kann. Sondern er leidet mit. Denn er kennt aus eigener Erfahrung Leid und Anfechtung, er kennt Schmerz und Versuchung. Ich will nur ein paar Beispiele aufzählen. Als Säugling mussten seine Eltern mit ihm fliehen, weil ein paranoider, machtgeiler König namens Herodes Angst vor dem neugeborenen König der Juden hatte. Als Handwerker erlebte Jesus die Schikanen der römischen Besatzungsmacht, die häufig Dienstleistungen und Arbeiten unter Androhung von Gewalt erzwungen haben. Jesus musste erleben, dass seine eigene Familie und die verlogene religiöse Elite ihn missverstanden und missachtet haben. Er war betroffen und erschüttert von dem Terror der Zeloten und der brutalen Antwort des römischen Statthalters Pontius Pilatus. Und er stand am Grab seines Freundes Lazarus und weinte. Er weinte mit der Trauerfamilie, er weinte über die Macht des Todes und über die verzweifelte Hilflosigkeit der Menschen. Er weinte, weil die Trauer auch ihm Schmerzen verursacht hat.

 

In dem Roman „Quo vadis“ gibt es eine Schlüsselszene, die dem Buch den Titel verliehen hat. Es erzählt davon, dass unter Nero die Christen in Rom grausam verfolgt werden. Sie werden eingekerkert, gefoltert und warten auf die Begegnung mit den wilden Tieren in der Arena zur Belustigung des Volkes. Die Christen haben Petrus gebeten, die Stadt zu verlassen und sein Leben im Interesse der anderen Gemeinden zu retten. So zieht Petrus mit einem Jungen als Begleiter heimlich aus der Stadt. Unterwegs kommt ihm in einer Vision der auferstandene Christus entgegen. Petrus erkennt freudig seinen Herrn und fragt ihn: „Quo vadis, domine?” - „Wohin gehst du, Herr?” Jesus antwortete ihm: „Ich gehe in die Stadt, um mit den Meinen zu leiden und zu sterben!” Diese Szene beschreibt den Charakter von Jesus. Er leidet mit seinen Freunden. Er steht ihnen zur Seite. Mein Dienstvorgesetzter in unsere Gemeinschaftsverband hat kürzlich in einer Mail geschrieben: „Schon heute erreichen uns Berichte von Christen in der Ukraine, dass sie Wunder und das wundervolle Eingreifen Gottes erleben.“ Ja, Jesus steht uns wirklich bei.

 

So ist Jesus. Und so ist er auch jetzt, da er sitzt zur Rechten des allmächtigen Vaters. Denn wir haben einen erhabenen Jesus, bei dem wir Barmherzigkeit und Gnade und Hilfe finden! Darauf will ich in meinem vierten Punkt zu sprechen kommen. Denn der Predigttext und viele andere Aussagen der Bibel sowie unser Glaubensbekenntnis betonen, dass Jesus nun auf dem himmlischen Thron der Gnade sitzt. Um wieder dorthin zu gelangen, „hat der die Himmel durchschritten“. Was ist wohl damit gemeint? In der Regel denken wir bei Himmel an wunderschöne Sphären und herrliche Zustände, an Orte, die nicht mehr an Raum und Zeit gebunden sind, in denen es keine Anfechtung und Versuchung gibt. Hinzu kommt, dass es in der jüdischen Religionsphilosophie die Vorstellung von verschiedenen Himmelsebenen gibt. Paulus berichtet mal davon, dass er bis in den dritte Himmel entrückt worden ist. Und wir sprechen landauf landab von einer Glückseligkeit, die wir wie im siebten Himmel erleben. Sicher können wir diese Vorstellungen auch mit dieser Aussage aus Hebräer 4 verknüpfen. Denn schließlich bedeutet das, dass Jesus die Himmel und aller Himmel Himmel durchschritten hat und im Zentrum, im Allerallerheiligsten angekommen ist. Und da steht der Thron der Gnade. Zugleich aber bezeichnen die unterschiedlichen Himmelsebenen die vielschichtigen Sphären, die uns irdische Menschen vom himmlischen Thron der Gnade trennen. Das alles aber hat Jesus durchschritten. Er hat also mit seiner Auferstehung und mit seiner Himmelfahrt den kompletten Weg aus der tiefsten Tiefe des Totenreiches bis hin zum himmlischen Thron für uns freigemacht! Der Weg ist für uns frei. Frei zu dem Thron, von dem Gnade und Barmherzigkeit und Hilfe ausgehen.

 

Aus diesen tröstenden Feststellungen ergeben sich für den Schreiber des biblischen Textes zwei Konsequenzen.

 

Erstens: Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis zu diesem Jesus Christus. Und wenn alles dagegen spricht, dass er auf dem Thron sitzt und lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit, wollen wir seinem Wort Vertrauen schenken und ihm glauben, was er getan und gesagt hat.

 

Zweitens: Lasst uns zu ihm kommen, hinzutreten und zuversichtlich beten und flehen, dass er uns und der Welt, den Menschen in der Ukraine und in Russland seine Hilfe, Barmherzigkeit und Gnade schenken möge. Er kann helfen und retten, Machtverhältnisse verändern und Frieden schaffen. Mitten im Sturm und in der Kriegsgefahr und Angst kann er Frieden und Ruhe schenken, die unsere Denkkraft übersteigen.

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Angst und Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

AMEN