Psalm 13

 

 

 

Liebe Freunde,

 

das ist nun der dritte Psalm, den ich ausgewählt habe, um so ein altes Gebetslied aus der Bibel mit euch zu betrachten. Dieser Psalm unterscheidet sich sehr deutlich vom Psalm 1 und auch vom Psalm 8. In dem ersten Lied dieser Art werden die glücklich gepriesen, die sich an Gott halten und nach seinen Worten leben. Die Zusage, dass Gott den Lebensweg dieser Menschen kennt und diese Frommen vor Gott in Ewigkeit bestehen können, ist die finale Krönung von Psalm 1. Im Psalm 8 haben wir von der Würde und göttlichen Auszeichnung gelesen, die Gott den Menschen schenkt. Gott denkt an uns, er schenkt uns seine ungeteilte Aufmerksamkeit. So steht es in diesem Loblied. Nun lesen wir heute aber ein Gebet, das einen ganz anderen Ton anschlägt. Man muss nicht Theologie studiert haben, um auf den ersten Blick zu erkennen, dass dieses Gebetslied Nummer 13 ein Klagepsalm ist.

Übrigens weit mehr als die Hälfte der Stücke in der Liedsammlung des Alten Testaments sind Klagepsalmen. Sie verarbeiten entweder die notvollen Situationen eines Einzelnen oder einer größeren Gruppe oder des ganzen Volkes.

Das mag überraschen, dass es so viele Klagelieder gibt. Denn die Psalmen 1 und 8 und viele andere bekannte Psalmen sind Lob- und Danklieder und erwecken den Eindruck, dass es den Frommen gut geht. Das ist aber bei den Menschen, die in früheren, biblischen Zeiten mit Gott unterwegs waren, überhaupt nicht der Fall. Ebenso wenig trifft das auf die zu, die heute an Jesus Christus glauben. Und ein sorgenfreies Leben ohne Angst und Leid hat uns die Bibel auch nirgends versprochen. Wir haben es auch als Christen in einer Welt des Leides ganz persönlich mit Leid im Leben zu tun. Und diese Erfahrungen werden in der Bibel nicht unter den Teppich gekehrt, sie werden nicht verschwiegen und nicht verdrängt. Wie David damit umgeht, das wollen wir anhand des Klagegebets in Psalm 13 nachvollziehen.

Was genau den David in die Bredouille gebracht hat, welches Leid und Elend ihm widerfahren ist, das lässt sich dem Gebet nicht entnehmen. Aber er ist sich sicher, dass Gott ihn im Stich gelassen hat, er hat den ganz starken Eindruck, dass Gott ihn verlassen hat. David ist mit dieser Erfahrung nicht allein. Darum ist dieses Klagelied nicht nur ein historisches Dokument, sondern eine Blaupause für unser Klagen und Beten, wenn wir in fürchterlichen Nöten stecken.

Viermal schreit David die anklagende Frage heraus: HERR, wie lange? Gott, wie lange soll das noch dauern? Wie lange muss ich das noch aushalten? Wie lange? Wahrscheinlich kennen wir solche Fragen, so leidvolles Klagen. Und wir kennen konkrete Anlässe, über die wir klagen. Wie lange muss ich mich mit dieser Krankheit rumplagen? Wie lange soll ich die Schmerzen noch aushalten? Wie lange wird das noch gehen mit den streitsüchtigen Nachbarn und der zänkischen Verwandtschaft? Wie lange quälen mich der Ärger und die Enttäuschung über mich selbst und über andere Menschen, die mich so unglaublich gekränkt und verletzt haben? Wie lange?

David schreit in seinem Leid und beklagenswerten Zustand aber nicht die Frage heraus, wie lange das Elend noch andauert. Sondern er fragt, wie lange Gott ihm so abweisend begegnet. Und damit wendet er sich direkt an Gott. Direkt und unmittelbar, ungeschminkt und ohne Umwege. David denkt ganz offensichtlich nicht: „Gott hat mich enttäuscht, verlassen, er lässt mich im Regen stehen – mit dem will ich nichts mehr zu tun haben. Es gibt so viele Probleme in meinem Leben, Gott hilft nicht – also kann er mich mal gernhaben. Es so viel Leid in dieser Welt – ich kann nicht mehr an Gott glauben.“

Entsetzlich viele Menschen ziehen diesen falschen Schlüsss aus leidvollen Erfahrungen und schlimmen Erlebnissen. Anstatt mit dem ganzen Kummer und Schmerz zu Gott zu laufen und sich bei ihm „auszukotzen“, werfen sie Gott Versagen vor und wählen ihn ab. Sie erklären ihn für abgesetzt. David geht anders vor!

David fragt Gott, ob er an Gedächtnisschwäche leidet. Aber das kann ja nicht sein. Das, was einige Jahrhunderte später der Prophet Jesaja sagt, das galt ja auch schon zu Davids Zeiten und das gilt zu allen Zeiten: Jesaja 49,14.15: „Jerusalem klagt: «Ach, der Herr hat mich im Stich gelassen, er hat mich längst vergessen!» Doch der Herr antwortet: «Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde - ich vergesse dich niemals!“

Vielleicht verzweifelt David gerade daran. Die Worte hört er wohl, die Zusagen kennt er auch, aber er erlebt was anderes. Deswegen macht er sich ernsthafte Sorgen. Und er fragt sich wahrscheinlich: Habe ich es mir selbst eingebrockt, dass Gott sich von mir abwendet? Bin ich schuld, weil ich gegen Gottes Gebote verstoßen habe? Will Gott mich auf die Probe stellen? Und er grübelt und fragt sich: Was muss ich tun? Denn bei dem Ausdruck „Sorgen“ klingt in dem entsprechenden hebräischen Wort die Frage mit: „Was muss ich tun, um aus dieser Situation wieder rauszukommen?“

Das ist die Frage, die sich so mancher stellt, wenn er oder sie den Eindruck bekommt, dass Gott irgendwie weit weg ist, nicht erreichbar ist. Was muss ich tun, damit Gott wieder einigermaßen mit mir zufrieden ist? Wie fromm muss ich werden, wie brav soll ich sein, wie ausgeprägt muss ich meine Religiosität praktizieren, damit Gott mich wieder freundlich anschaut? Und was muss ich machen, dass meine Feinde sich nicht mehr über mich das Maul zerreißen. Was kann ich nur dagegen machen, dass die Nachbarn und Bekannten keinen schlechten Eindruck von mir kriegen, wenn sie sehen, dass es mir (einem rechtschaffen frommen Menschen!) so schlecht geht?

Aber David macht die Erfahrung, dass frommer Aktionismus nicht hilfreich ist. Mit verbissener Frömmigkeit erreichen wir keine fröhliche Gelassenheit. Darum ändert David im mittleren Teil seines Gebetes den Ton, er verändert seine Blickrichtung. Er bleibt nicht mehr bei sich und seinen Bemühungen und seinen Empfindungen. Er merkt ja, dass er allein da nicht rauskommt. Er bittet Gott: Sieh mich bitte wieder an, schau her, wende dich mir wieder zu, antworte mir, sprich wieder mit mir. Denn du bist HERR, du bist Jahwe, du bist doch der treue Bundesgott.

Sieh mich wieder an! Das ist seine dringliche Bitte. Ok, dachte ich mir, aber was ist, wenn Gott mich ansieht und Dinge entdeckt, die ihm nicht gefallen? Wenn er Schuld und Scheitern, Misstrauen und Argwohn und Eigensinn bei mir sieht, was dann? Dann ist es besser, dass Gott mich mit meiner Schuld sieht, als dass er mich übersieht. Und wenn Gott mir sagt, wo ich verkehrt liege und was ich verkehrt gemacht habe und wo ich mich verrannt habe, dann ist das besser, als wenn er schweigt. Besser er schimpft mit mir, als dass er mich ignoriert.

Und doch stellen wir uns ja unweigerlich die Frage: „Was muss ich denn tun?“ Ich kann doch nicht nur die Hände in den Schoß legen und einfach nur beten: „Schau mich an und rede wieder mit mir.“ Was ist zu tun von unserer Seite?

Wir sollen nicht verbissener werden, sondern wir sollen abhängiger werden von Gott.

Wir sollen nicht beschäftigter werden, sondern bedürftiger.

Nicht getriebener, sondern gelassener.

Nicht frömmer, sondern gefestigter.

Die Hoffnung, die der Beter mit dem Reden Gottes und seiner Zuwendung verbindet, ist die, dass er wieder neuen Lebensmut gewinnt. In der poetischen Sprache der Bibel klingt der Wunsch so: „Erleuchte meine Augen“. Das ist mehr als nur: Lass mich wieder etwas fröhlicher aus der Wäsche gucken. Weil die Augen immer auch die Fenster der Seele sind, spiegeln die Augen das wider, was in unserem Inneren passiert, wie es in uns drinnen aussieht. Da kann es rein äußerlich immer noch sehr anstrengend und mühsam sein, aber weil Gottes Augen mich anschauen, deswegen können meine Augen auch wieder dieses Leuchten haben. Ich denke an einen einfachen Bauern, der irgendwo in Italien gelebt hat und jeden Morgen ganz früh in die Kirche gegangen ist und etwa eine halbe Stunde später das Gotteshaus wieder verlassen hat. Der Pfarrer hat sich eines Tages hinten in die Kirche geschlichen und gesehen, dass der Bauer in der ersten Bank sitzt und das Kruzifix anschaut. Nach 30 Minuten steht er auf und geht raus. Der Pfarrer passt ihn ab und fragt, was er in der Kirche die 30 Minuten lang tut. Darauf hin bekommt er die Antwort: „Er schaut mich an und ich schaue ihn an!“ Das ist es: der gekreuzigte und auferstandene Christus schaut uns gnädig und freundlich an und wir sollen ihn anbetend und dankbar anschauen.

Im dritten Teil ist es diese Zuversicht, die sich Raum verschafft. Und ich habe mich gefragt, was sich denn für David im Verlauf des Gebetes verändert hat. Meine Vermutung ist, dass sich von außen betrachtet gar nichts groß geändert hat. Nachdem er aber erfahren hat, dass Gott ihn ansieht und nicht übersieht, hat sich seine Sicht der Dinge verändert. Nachdem er gehört hat, dass Gott ihm sein Wort gibt, verändert sich der Tonfall seiner Worte. Und David hat Gott bei seiner Ehre gepackt. Er hat ihn gebeten, dass die Feinde nicht das letzte freche Wort haben und frohlocken. Und jetzt nimmt er Gott beim Wort und frohlockt über die Zuwendung Gottes. Sein Herz hat wieder einen Frieden und eine Gelassenheit erfahren und empfangen, die den Beter singen und jubeln lassen. Die äußeren Umstände haben sich nicht geändert. Aber die innere Haltung schon.

Ich habe von einer jungen Frau gelesen, die Ende des 19. Jahrhunderts ihre schottische Heimat verlassen hat, um nach Afrika zu gehen. Sie war in einem Gebiet, in dem Krankheiten und unbeschreibliche Gefahren geherrscht haben. Aber sie hatte einen schier unbezwingbaren Geist, der sie zu Höchstleistungen befähigt hat. Nach einem besonders strapaziösen Tag versuchte sie einmal in einer provisorischen Hütte im Dschungel zu schlafen. Über diese Nacht schrieb diese junge Frau, ihr Name war Mary Slessor, folgendes: „Ich stellte eigentlich keine allzu großen Ansprüche mehr an mein Bett, aber während ich so auf einem Stapel dreckiger Bretter lag, die mit dem Abfall schmutziger Maishüllen bedeckt waren, umgeben von unzähligen Ratten und Insekten, drei Frauen und ein drei Tage altes Baby neben mir und mehr als ein Dutzend Schafe und Ziegen draußen, wunderte ich mich nicht mehr darüber, dass ich kaum schlafen konnte. In meinem Herzen jedoch hatte ich eine durchaus gemütliche und ruhige Nacht.“

Das hat mich, als ich es das erste Mal gelesen habe, tief beeindruckt. Und ich habe gelernt, mehr auf den inneren Menschen zu achten, mehr in die Herzensbeziehung zu Gott zu investieren. Der äußere Mensch verfällt immer mehr. So formuliert es der Apostel Paulus. Aber das Herz in seiner Beziehung zu Gott kann immer wieder erfrischt und gefestigt werden. Darum ist von großer Bedeutung, wie wir unsern inneren Menschen stärken, wie wir an der Gnade Gottes festhalten und auf sie vertrauen.

David hat sich dazu durchgerungen, sein Vertrauen auf die Gnade Gottes zu setzen. Und dem gibt er eine Gestalt, das findet seinen Ausdruck in der Anbetung, im Singen, in der Musik, im Lobpreis. Deswegen lade ich uns ein, dass wir jetzt auch einstimmen in das Bekenntnis am Ende von Psalm 13: „Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.“

AMEN