Ein Tag im Leben von Jesus –
Jesus im Gefühlschaos

 

Liebe Freunde,

es gibt Tage, an denen sind wir glücklich, dankbar und zufrieden. Und es summt in uns das Lied von den Toten Hosen: „An Tagen wie diesen wünscht man sich die Unendlichkeit.“ Oder „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergehn.“ Aber es gibt leider auch ziemlich viele Tage, da sehnen wir uns danach, dass sie möglichst schnell und ohne größere Blessuren vorübergehen. „Es gibt Tage, da wünscht ich, ich wär mein Hund“, um es mit Reinhard Mey zu sagen. Ich möchte uns mit hineinnehmen in einen Tag im Leben von Jesus, der es in sich hatte. Ein Tag mit Trauer und einer potenziellen Drohung, mit Freude und einer kurzer Ruhepause, Gedränge und hohen Erwartungen der Menschenmenge und der anschließenden Speisung der Fünftausend. Am Abend dieses Tages muss er sich dagegen wehren, dass das Volk ihn zum Gegenkönig von Herodes Antipas und dem römischen Kaiser macht. Er muss sich vor den Menschen regelrecht in Sicherheit bringen, er sucht erneut die Gebetsstille. Aber mitten in der Nacht rettet er seine Jünger, die in einem Boot auf dem See Genezareth waren, aus einem Sturm. Und am Ende des folgenden Tages steht Jesus mit seinen 12 Jüngern ziemlich alleine da, weil sich viele seiner Fans von ihm abgekehrt haben und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten. Das war der Schnelldurchlauf.

Eine Übersicht über diesen Tag ergibt sich, wenn wir die verschiedenen Berichte der vier Evangelisten wie ein Puzzle zu einem großen Gesamtbild zusammenfügen. Ich beginne mit dem Bericht des Evangelisten Matthäus im 14. Kapitel. Da steht, dass Herodes Antipas, der Fürst in jenem Teil des Landes, gehört hat, was sich die Leute von Jesus erzählten. »Das ist der Täufer Johannes«, sagte er zu seinem Gefolge. »Er ist vom Tod auferweckt worden, darum wirken solche Kräfte in ihm.« Und dann berichtet Matthäus, warum Herodes den Johannes hat umbringen lassen. Herodes hatte Johannes festnehmen und gefesselt ins Gefängnis werfen lassen. Der Grund dafür war folgender: Herodes hatte seinem Bruder Philippus die Frau, Herodias, weggenommen und sie geheiratet. Und Johannes hatte ihm daraufhin vorgehalten: »Das Gesetz Gottes erlaubt dir nicht, sie zu heiraten.« Herodes hätte ihn deshalb gerne getötet; aber er hatte Angst vor dem Volk, das Johannes für einen Propheten hielt. Zur Hinrichtung von Johannes kam es, weil der charakterlose Lüstling, der korrupte, wahnsinnige König Herodes seiner Stieftochter nach deren erotischen Tanzeinlage jeden Wunsch erfüllen wollte. Auf Drängen ihre Mutter Herodias wünscht sich diese Stieftochter von Herodes den Kopf von Johannes dem Täufer. Matthäus erzählt, dass die Freunde von Johannes nach der Hinrichtung seinen Leichnam abgeholt und begraben haben. „Danach gingen sie zu Jesus und berichteten ihm, was geschehen war“ (Matth 14,12).

Jesus erfährt, dass sein Großcousin Johannes von Herodes Antipas ermordet wurde. Johannes war derjenige, der wie ein Herold vor Jesus hergezogen ist und ihn angekündigt hat. Johannes hat wie kaum ein anderer verstanden, wer Jesus ist. „Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nimmt und trägt.“ Er wusste, dass Jesus mit der Vollmacht des Heiligen Geistes auftreten und handeln und reden würde und dass er mit dem Heiligen Geist ausrüsten wird, die an ihn glauben. Johannes, der letzte große Prophet, ist von diesem – Entschuldigung, hier muss ich mal einen Kraftausdruck verwenden – von diesem Drecksack Herodes ermordet worden. Wir ahnen, was Jesus gefühlt hat, wir können seinen Schmerz nachempfinden!?

An der Stelle sei schon mal ausdrücklich gesagt, dass Jesus zwar Gottes Sohn ist und auch in seiner irdischen Existenz ganz Gott gewesen ist. Aber er war ja auch ganz und gar Mensch. Er hatte Schmerzen und Gebrechen wie ein Mensch, er hatte Gefühle und Empfindungen wie ein Mensch. Er hat getrauert wie du und ich und er hat sich gefreut wie wir. Wenn er nämlich ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen ist, dann ist er uns Menschen in allem gleich geworden. Außer dass er sich an keiner Stelle versündigt hat.

Zu der Trauer um Johannes kommt noch der Hinweis, dass Herodes auf einmal ein merkwürdiges Interesse an Jesus hat. In Lukas 9,9 wird Herodes zitiert: »Johannes habe ich doch selber den Kopf abschlagen lassen. Wer ist dann der, von dem ich solche Dinge höre?« Darum, so schreibt Lukas weiter, wollte Herodes Jesus kennenlernen. Ist das pure Neugierde von diesem bescheuerten König oder stecken Tötungsabsichten dahinter? Ein paar Seiten später lesen wir in Lukas 13, dass Herodes tatsächlich die Absicht hat, Jesus auch zu töten.

Jesus erfährt also nicht nur, dass Johannes enthauptet wurde, sondern auch, dass der gleiche Herodes ihn sehr wahrscheinlich aus dem Weg schaffen will. Deswegen wollte Jesus eine Zeit lang seine Ruhe haben und allein sein. Matthäus schreibt: „Als Jesus die Nachricht erhalten hatte, fuhr er mit dem Boot in eine entfernte Gegend, denn er wollte allein sein.“ Aber bevor er wegfahren konnte, kamen seine Jünger zurück. Sowohl Lukas als auch Markus erzählen das, was Matthäus (warum auch immer) unerwähnt lässt. Dieses Puzzleteil müssen wir hier einfügen, damit wir das Gesamtbild dieses Tages sehen. Unmittelbar im Anschluss an den Hinweis, dass Herodes Jesus gern kennen lernen wollte, schreibt Lukas wie gesagt, dass die 12 Apostel zurück kamen und ihm berichteten, was für großartige Dinge sie getan hatten. Hier braucht es keine große Phantasie um sich vorzustellen, was sie erzählen und raussprudeln. Jesus hatte sie ja beauftragt, das Evangelium zu verkündigen und es mit Wundern zu bekräftigen. „Dann zogen die Jünger los und forderten die Menschen auf, sich von ihren Sünden abzukehren. Sie trieben viele Dämonen aus und salbten viele Kranke mit Öl und heilten sie“ (Markus 6,12-13). Und jetzt sind sie wieder bei Jesus und sprudeln raus, was sie alles erlebt haben. Können wir uns die Begeisterung vorstellen? Sie sind bei ihrem Lehrer, ihrem Meister, der sie nicht nur beauftragt und losgeschickt hat, sondern der sie mit Vollmacht und übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet hat. Ich höre im Geiste, wie Petrus von dem Lahmen erzählt, den er geheilt hat. Andreas berichtet von der Heiligung eines Epileptikers. Johannes ist noch ganz begeistert, dass er vor einer ganzen Dorfgemeinschaft erzählt hat, wer Jesus für ihn ist und Jakobus schließt sich gleich an und berichtet, dass die Menschenmassen ihn gefragt haben, wann und wo sie Jesus mal höchstpersönlich hören und erleben können. Und Jesus? Er ist in einem Gefühlschaos, oder? Eben noch voller Trauer und Kummer. Und jetzt überflutet von der Begeisterung seiner Jünger, und der Freude darüber, dass das Evangelium, das Wort und die Wunder bei den Menschen angekommen sind. Denn im Gefolge von den Jüngern kamen wirklich ganz viele Menschen zu Jesus. Markus beschreibt es so: „Ständig waren so viele Menschen um sie, dass Jesus und seine Apostel nicht einmal Zeit fanden zu essen.“

Ganz schön viel auf einmal. Kennt ihr solche Zeiten, in denen die Gefühle Achterbahn fahren? Ich erinnere mich noch sehr gut an den 06. Februar 2002. Christa, meine Frau, war bei Freundinnen, die hatten sie zu ihrem 40. Geburtstag zum Brunch eingeladen. Ich war bei einer älteren Dame aus der Gemeinde zu Besuch, die ebenfalls an dem Tag Geburtstag hatte. Am Nachmittag oder Abend wollten wir auch noch mit Christa feiern. Als ich nach dem Besuch im Nachbardorf wieder nachhause kam, habe ich auf dem Anrufbeantworter zwei Nachrichten abgehört. Die erste war von der Nachbarin meiner Eltern. Inge hat mich gebeten zurückzurufen, es sei was passiert. Die zweite Nachricht kam von meiner Schwester, die mit tränenerstickter Stimme schluchzte, dass unser Vater verstorben ist. Gefühlschaos pur. Bekannte haben erzählt, dass sie vor etlichen Jahren voller Freude die Hochzeit ihres Sohnes gefeiert haben. Und drei Tage später teilt ihnen ihre Tochter mit, dass deren Mann sich von ihr getrennt hat und ausgezogen ist. Gefühlschaos pur. Am 23. Dezember 1992 wurde unsere Tochter Louise ein Jahr alt und ich war in meinem Heimatdorf, weil dort meine Oma beerdigt wurde. Und so gibt es bei euch bestimmt auch Tage oder Zeiten, in denen es hoch und runter, drunter und drüber geht.

Was hat Jesus in der Situation gemacht? Jesus sucht für sich und seine Jünger die Abgeschiedenheit, die Stille, die Ruhe. Originalton Markusevangelium: „Die Apostel kehrten zu Jesus zurück und berichteten ihm, was sie alles in seinem Auftrag getan und den Menschen verkündet hatten. Jesus sagte zu ihnen: »Kommt jetzt mit, ihr allein! Wir suchen einen ruhigen Platz, damit ihr euch ausruhen könnt.« Denn es war ein ständiges Kommen und Gehen, sodass sie nicht einmal Zeit zum Essen hatten. So stiegen sie in ein Boot und fuhren an eine einsame Stelle.“

Doch damit war der Tag noch lange nicht zu Ende. „Aber die Leute sahen sie abfahren und erzählten es weiter. So kam es, dass Menschen aus allen Orten zusammenliefen und noch früher dort waren als Jesus und die Zwölf. Als Jesus aus dem Boot stieg, sah er die vielen Menschen. Da ergriff ihn das Mitleid, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Darum sprach er lange zu ihnen.“

So, nun reicht es aber, oder? Es wird langsam Abend, der Tag neigt sich. Feierabend. Denkste. „Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu Jesus und sagten: »Es ist schon spät und die Gegend hier ist einsam. Schick doch die Leute weg! Sie sollen in die Höfe und Dörfer ringsum gehen und sich etwas zu essen kaufen!« Jesus erwiderte: »Gebt doch ihr ihnen zu essen!«“

Es kommt zu der Speisung der 5000. Auffällig ist, dass alle vier Berichterstatter über das Leben von Jesus dieses Wunder und vieles mehr, was sich um dieses Ereignis herum zugetragen hat, berichten. Ich hatte es ja eingangs schon erwähnt, dass das Volk ihn zum Gegenkönig ausrufen wollte. Die Verlockung ist groß. Er hat das Volk auf seiner Seite, er könnte es Herodes heimzahlen, was der getan hat. Aber Jesus muss sich mit Händen und Füßen wehren. Denn das ist nicht sein Weg. Deswegen zieht er sich wieder zurück. Er braucht die Zwiesprache mit seinem Vater.

Hier höre ich mal mit dem Nacherzählen der Ereignisse auf. In den weiteren Predigten gehe ich auf einzelne Passagen ausführlicher ein. Aber genau da will ich anknüpfen, wo Jesus sich in die private, persönliche Stille zurückzieht. Denn das scheint mir ein wesentlicher Schlüssel dafür zu sein, dass Jesus so einen Tag überstehen konnte. Dabei will ich ausdrücklich betonen, dass Jesus das alles nicht gesucht, nicht geplant und nicht inszeniert hat. Sondern es ist passiert. Ich betone das deswegen, damit keiner meint, wir müssten alle in der Lage sein, solch ein Tagespensum abzuleisten, wie wir das hier bei Jesus sehen. Ich bin sicher, dass Jesus auch ganz normale, schlichte und alltägliche Zeiten erlebt hat. Aber wenn es doch hergeht, dann können wir von ihm lernen, wie er diesen stürmischen Tag bewältigt hat. Die Stille war für ihn wichtig. Sie war gefüllt und erfüllt mit dem Gebet. Mit dem Gespräch mit seinem Vater. Jesus hat, ich glaube, dass ich das so sagen darf, seinem Papa im Himmel erzählt, was an diesem Tag alles gelaufen ist. Ich glaube, dass Jesus in der Gebetsstille auch um Johannes geweint und sich über Herodes zornig geärgert hat. So verstehe ich auf jeden Fall die Aussage in dem neutestamentlichen Schreiben, das in unserer Bibel den Titel „Hebräerbrief“ trägt: „Solange Jesus hier auf der Erde lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen seine Gebete und Bitten an den einen gerichtet, der ihn aus dem Tod befreien konnte.“ Ich glaube nicht, dass hier nur und ausschließlich an die Gebetsszene im Garten Gethsemane gedacht werden darf.

Meines Erachtens werden wir von Jesus selbst ermutigt und aufgefordert, so und in dieser Weise an Tagen, in denen es uns gut geht und an Tagen, die uns alles abverlangen, ausgiebig und ausführlich mit Gott im Gespräch zu sein.

Und eine weitere Erkenntnis habe ich gewonnen, als ich mich mit diesem Tag im Leben von Jesus befasst habe: Jesus kennt Chaos, er kennt Trauer und den Wundschmerz einer aufgeriebenen Seele. Er kennt Freude und Begeisterung, er kennt die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit und wie es ist, von Menschen in Anspruch genommen zu werden. Ich hatte vorhin schon mal darauf hingewiesen, dass Jesus ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen ist. Darum weiß er, wie uns zumute ist. Hierfür noch eine kleine Anschauungsgeschichte.

Da ist ein Vater, der seinem sechsjährigen Sohn beibringen will, wie man einen Basketball in den Korb wirft. Der Junge wirft so fest er kann, aber es will nicht funktionieren. Er trifft nicht. Der Papa nimmt den Ball und wirft ihn in den Korb und sagt: „Mach es doch einfach so, es ist ganz leicht.“ Aber der kleine Steppke hat keinen Erfolg. Der Vater ermutigt ihn und zeigt es ihm nochmal. Da sagt der Junge: „Ja, für dich da oben ist es leicht. Aber du weißt gar nicht, wie schwer es von hier unten ist.“ Das, meine lieben Freunde, können wir über Jesus nie sagen. Denn er weiß, wie es ist, hier unten zu leben. Und er versteht unsere Schwächen und unsere Herausforderungen. Durch den Heiligen Geist will uns begleiten und trösten, helfen und Kraft geben, ermutigen und durchbringen. Das, ihr Lieben, möchte ich uns allen heute mit in den Lebensalltag geben.

AMEN